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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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schwenkte dieses harmlose Weihnachtsgeschenk, das den meisten fremd und unheimlich war:
    »Das ist ein Werkzeug, an dem man alle Spione erkennt!«
    Dann aber entzifferte und übersetzte er vor den Ohren des ganzen Volkes mit lautschallender Triumphstimme den hochverräterischen Brief an den amerikanischen Konsul. Ein aufrauschender Haßschrei folgte der Verlesung. Der Müdir trat ganz nahe an Stephan heran und griff ihm mit seiner prachtvoll manikürten Rechten unters Kinn, als wollte er ihn ermuntern:
    »Nun aber sag uns, wie du heißt, Junge!«
    Stephan lächelte und schwieg. Das Meer der Wirklichkeit umspülte ihn in unendlicher Ferne. Vor den Augen des Rothaarigen aber tauchte eine Knabenphotographie im Selamlik der Villa auf. Er wandte sich feierlich an die Menge:
    »Wenn er es nicht sagen will, so werde ichs euch sagen. Es ist der Sohn des Bagradian …«
    Da traf Stephan der erste Messerstich in den Rücken. Er fühlte ihn nicht. Denn sie holten eben Papa vom Bahnhof ab, der aus Paris in der Schweiz eintraf. Mama trug noch immer den roten Sonnenschirm. Der Vater trat aus einem sehr hohen Tor, ganz allein. Er hatte einen schneeweißen Anzug an und keinen Hut auf dem Kopfe. Mama winkte. Als aber Gabriel Bagradian seinen kleinen Sohn erblickte, öffnete er die Arme voll unermeßlicher Liebe. Und da Stephan ja wirklich noch so klein war, hob er ihn an sein Herz, an sein strahlend nahes Gesicht, und hob ihn hoch über seinen Kopf und höher und immer höher …
     
    Die erste, die den verstümmelten Leichnam nach Einbruch der Nacht entdeckte, war Nunik. Die Saptiehs hatten ihn, nackt wie er war, gleich nach der Massakrierung auf den Friedhof von Yoghonoluk geworfen. Nunik kam gerade zurecht, um ihn vor den wilden Hunden zu retten. Sie sandte eines der verwahrlosten Kinder sogleich in das Ruinenlager, um den Aufbruch der ganzen Schar zu verfügen. Etwas Gewaltiges war geschehen und die Furcht durfte heute nicht regieren. Das Geschlecht Awetis Bagradians, des Stifters, versank für immer. Doch nun war auch die Stunde gekommen, dem Willen Ter Haigasuns zu entsprechen und den Bagradiansohn auf den Berg zu bringen. Der Lohn konnte nicht verweigert werden und ein gesichertes Leben winkte.
    In kleinen Gruppen traf die scheue Gesellschaft auf dem Friedhof ein. Die Totenweiber gingen sofort an die Arbeit. Sie reinigten den zerfetzten Körper des schönen Knaben von Blut und Schmutz. Die großmütige Nunik tat für die Familie Bagradian ein Übriges. Sie holte aus ihrem unaussprechlichen Vorratssack ein langes weißes Hemd hervor, in das sie Stephans Körper hüllte. Während dieser letzten Dienste sang einer der prophetenhäuptigen Blinden vor sich hin:
    »Das Blut des Lammes ist zu ihrem Haus geflossen.«
    Nach vollendetem Werke aber banden sich Nunik, Wartuk, Manuschak und die andern Klageweiber ihre schweren Säcke auf den Rücken. Tiefgebeugt gingen sie unter der Last. In der zweiten Stunde des neuen Tages bewegte sich der lautlose und trotz des Halbmonds fast unsichtbare Zug gegen den Damlajik, um auf einem der heimlichen Wege, die der Waldbrand verschont hatte, die Stadtmulde zu erreichen. Nunik schritt an ihrem langen Stock als Führerin voran. Als sie im Walde und in Sicherheit waren, wurden zwei Fackeln entzündet und zu beiden Seiten der Bahre getragen, damit der Tote nicht ohne Licht und Ehre bleibe.

Drittes Kapitel Der Schmerz
    Gabriel Bagradian verbrachte die Nächte wieder auf seinem gewohnten Schlafplatz in der Nordstellung. Auf dringende Bitte Ter Haigasuns, den die sichtbare Lockerung der Mannszucht beunruhigte, hatte er bereits am ersten Abend nach Stephans Verschwinden den Oberbefehl wieder übernommen. Er gab damit ein klareres Zeugnis seiner Selbstdisziplin und Nervenkraft als in allen drei Schlachten. Denn in diesen Tagen zitterten ihm die Hände, er konnte keinen Bissen genießen und keinen Augenblick schlafen. Das Furchtbare war nicht nur die Ungewißheit über Stephans Los, sondern die völlige Aussichtslosigkeit, ihn zu finden, ihn zu retten. In der ersten Verzweiflung hatte er mit dem Gedanken einer Expedition gespielt. Sollte er nicht seine »Fliegende Garde« neu aufstellen und mit ihr einen Ausfall und Streifzug bis an die Aleppo-Straße wagen? Vielleicht würde er auf diesem nächtlichen Blut- und Brandzug, die ganze Gegend in Schreck versetzend, Stephan und Haik noch einholen. Diesen romantischen Plan ließ er natürlich sofort fallen. Durfte er denn um seines eigenen Kindes willen das

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