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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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bleischwerem Schlaf. Innerhalb dieses Schlafes aber konnte sie, ohne zu erwachen, den Kopf wenden, den Mund öffnen und die Milch schlucken, die ihr Iskuhi reichte. Manchmal stammelte sie auch ein paar Worte aus einer andern Welt herüber.
    Iskuhi Tomasian rührte sich in den ersten Tagen kaum aus dem Krankenzelt, da die arbeitsüberlastete Mairik Antaram die Pflege nur stundenweise übernehmen konnte. Das Mädchen hatte sein Bett hereinschaffen lassen und schlief bei Juliette. Howsannah und ihr Kind sah sie jetzt nicht mehr, wie es ja nicht anders möglich war. Trotz ihres Gebrechens leistete Iskuhi den Pflegedienst mit Geschick. Da schon am zweiten Tag zu der Krankheit eine eitrige Angina hinzutrat, geschah es oft, daß Juliette die Milch, die ihr Iskuhi einflößte, nicht hinunterwürgen konnte oder wieder erbrach. Die Pflegerin mußte dann noch zu allen anderen Mühen die Bettwäsche auswechseln und waschen. Juliettens Dienerinnen ließen sie ruhig gewähren. Sie fürchteten sich vor der Ansteckung und berührten nur mit großem Widerwillen die Kranke und ihre Sachen. Meist steckten sie nur einmal am Morgen und ein andresmal gegen Abend den Kopf scheu ins Zelt und verschwanden dann. Was hatten sie schließlich mit dieser Fremden zu schaffen, die in solch schmählichem Rufe stand? Die Last lag vorläufig auf Iskuhi ganz allein. Bei Tag und Nacht erwies sie der Bewußtlosen Liebesdienste, ohne daß ihr Herz der Französin auch nur um einen Schatten näher gekommen wäre. Wenn die Frau des Arztes zur Ablösung erschien, mußte sie die junge Tomasian mit Gewalt aus dem Krankenzelte entfernen, damit diese ein paar Stunden lang ruhe. Iskuhi aber setzte sich dicht vor den Eingang und rührte sich nicht fort. Wenn ein Schritt ertönte, ein Gesicht auftauchte, erschrak sie tief und suchte sich zu verstecken. Der Gedanke an ein Zusammentreffen mit ihrem Bruder oder ihrem Vater verstörte sie. Am liebsten war ihr die Stunde an der Grenze zwischen Nacht und Morgen, wenn sie, wie eben jetzt, vor dem Zelt saß, um Gabriel zu erwarten. In dieser einsamsten Stunde der Welt pflegte er meist zu kommen, da er eine ganze Nacht auf seinem Schlafplatz in der Nordstellung fast niemals aushielt. Gabriel trat, von Iskuhi gefolgt, an Juliettens Bett. Die Petroleumlampe auf dem Spiegeltischchen warf ihr Licht voll auf den Kopf der Kranken. Altouni hatte gewünscht, man möge Juliette immer im Auge behalten, für den Fall, daß sie erwache oder daß eine Herzschwäche eintrete. Gabriel Bagradian beugte sich über seine Frau und schob ihre Augenlider auseinander, als wollte er durch die Einwirkung des Lichtes ihren Geist zurückrufen. Juliette wurde wohl unruhig, machte zuckende Bewegungen, atmete laut, doch sie erwachte nicht. Die Stimme Iskuhis erzählte alles Wissenswerte, das sich tagsüber ereignet hatte. Im Zelte redeten die beiden nur Sachliches miteinander. Doch auch vor dem Zelte wars nicht geheuer. Als sie jüngst um die gleiche Stunde Arm in Arm auf dem Dreizeltplatz umhergegangen waren, hatte Iskuhi gespürt, wie Howsannahs Türvorhang sich bewegte und der Blick verborgener Augen sie im Rücken traf. Darum verließen sie heute den Krankenraum auf Zehenspitzen und begaben sich zum »Gartensalon«, zu jener von Myrthen umsäumten Bank, wo Juliette in früheren Tagen ihre Bewunderer empfangen hatte. Hier waren sie gut geborgen. Trotz der tiefen Einsamkeit berührten sie einander nicht und sprachen nur hauchend leise:
    »Weißt du, Iskuhi, vorhin hab ich gemeint, ich verliere den Verstand. Aber in dem Augenblick, da ich deine Nähe gefühlt habe, waren diese grauenhaften Einbildungen vorüber. Jetzt bin ich wieder frei. Sei still! Es ist schön. Lange wirds ja nicht dauern.«
    Er lehnte sich weit zurück wie ein Leidender, der endlich eine schmerzfreie Körperstellung gefunden hat und diese festhalten will:
    »Ich habe Juliette geliebt und vielleicht liebe ich sie noch. Mit der Erinnerung wenigstens. Aber dies zwischen dir und mir, was ist das, Iskuhi? Am Ende meines Lebens hab ich dich finden müssen, wie ich hierher kommen mußte, nicht durch Zufall, sondern …, aber wer kann das ausdrücken? Mein Lebtag habe ich immer nur das Fremde gesucht. Es hat mich verführt, doch niemals glücklich gemacht. Und auch ich habe das Fremde verführt und nicht glücklich gemacht. Man lebt mit einer Frau, Iskuhi. Und dann trifft man die einzige, wahrhaftige Schwester, die man hat, und es ist zu spät …«
    Iskuhi sah an ihm vorbei in das

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