Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
träge bewegte Gesträuch:
    »Wenn wir uns draußen in der Welt begegnet wären, irgendwo, hättest du dann die Schwester in mir auch bemerkt …?«
    »Das weiß Gott allein. Vielleicht hätte ich sie nicht bemerkt …«
    Kein Schatten lag auf ihrer Stimme:
    »Und ich hab es sofort gesehen, wer du für mich bist, damals schon, in der Kirche, als wir von Zeitun kamen …«
    »Damals? Ich habs nie geglaubt, daß man ein andrer werden kann, Iskuhi. Man lernt zu, dacht ich mir, man entwickelt sich … Das Gegenteil ist wahr. Man schmilzt. Was dir geschieht und mir und unserm ganzen Volk, das ist ein Schmelzprozeß. Ein dummes Wort für die Sache. Aber ich spürs, wie ich zusammenschmelze. Alles Überflüssige, alles Angeflogene vergeht. Bald bin ich nurmehr ein Stück Metall, dieses Gefühl hab ich. Siehst du, und aus demselben Grunde ist Stephan verloren …«
    Iskuhi griff nach seiner Hand.
    »Warum sagst du das? Warum soll Stephan verloren sein? Er ist ein starker Junge. Und Haik kommt sicher nach Aleppo. Warum nicht auch er?«
    »Er kommt nicht nach Aleppo … Bedenke doch, was geschehen ist. Und das alles trägt er in sich …«
    »Du solltest solche Worte gar nicht aussprechen, Gabriel! Du schadest ihm damit. Ich habe alle Hoffnung für Stephan …«
    Iskuhi wandte plötzlich den Kopf nach dem Krankenzelt. In Gabriel aber blinkte ein Gedanke auf, er wußte selbst nicht warum. Sie wünscht sich Juliettens Tod, sie muß ihn wünschen! Iskuhi war aufgesprungen.
    »Hörst du nichts? Ich glaube, Juliette ruft!«
    Er hatte nichts gehört, folgte aber Iskuhi, die ins Zelt stürzte. Juliette wand sich auf ihrem Bett wie eine Gefesselte, die gegen Stricke kämpft. Sie war weder ganz bewußtlos noch auch wach. Ihre zerbissenen Lippen bedeckte ein weißlicher Schorf. Man sah es den glutroten Wangen an, daß in den letzten Minuten das Fieber wieder bis an die Grenze des Möglichen gestiegen sein mußte. Sie schien Gabriel zu erkennen. Mit irren Händen klammerte sie sich an seinen Rock. Er konnte die Frage nur mit Mühe verstehen, die sie heiser lallte:
    »Ist das alles wahr … Ist das alles wahr …?«
    Zwischen dieser Frage und seiner Antwort lag eine kleine Zeitlücke, wie aus eisiger Windstille gebildet. Dann aber betonte er, über die Frau geneigt, jede Silbe in der Art eines Magnetiseurs, der einen hypnotischen Auftrag erteilt:
    »Nein, Juliette, das alles ist nicht wahr … das alles ist nicht wahr …«
    Ein erschütternder Seufzer:
    »Gott sei Dank … Es ist nicht wahr …«
    Ihr Krampf lockerte sich. Sie zog die Knie hoch, als wolle sie sich selig schuldlos im Mutterleib des Fiebers verkriechen. Gabriel fühlte ihren Puls. Es war ein wildes, doch kaum mehr wahrnehmbares Vogelpicken. Man mußte zweifeln, ob Juliette noch den Morgen erleben werde. Schnell, das Herzmittel! Iskuhi schob ihr den Löffel mit der Strophantuslösung zwischen die Zähne. Da kam Juliette noch einmal zu sich, versuchte aufzusitzen und keuchte:
    »Auch Stephan … die Milch … nicht vergessen …«
     
    Für Pastor Aram brach ein Tag des Ärgernisses an. Er hatte sich, die Laterne an den Gürtel geschnallt, vor Morgen aufgemacht, um zu den Meeresklippen hinabzusteigen und die ersten Resultate der von ihm ins Werk gesetzten Fischerei zu besichtigen. Das Floß war nun fertig und die jungen Leute hatten sich in dieser windlosen Nacht bereits hinausgewagt, um mit Schleppnetzen und kleinen Lichtern den üblichen Küstenfischfang zu betreiben. Tomasian war von seiner Idee besessen. Er sah in ihr nicht nur die Möglichkeit, den notwendigen Kostwechsel und reichliche Zubuße zu schaffen; sie erschien ihm darüber hinaus als einzige Rettung vor der nahenden Hungersnot. Sollte es bei hinreichendem Fleiße nicht gelingen, dem Meere täglich zwei- bis dreihundert Oka Fische zu entreißen? Wie sehr man auch mit dem Schlachtvieh jetzt schon knauserte, in sechs Wochen würde das letzte Schaf verschwunden sein – selbst bei höchst optimistischer Rechnung. Brachte er aber, Aram Tomasian, die Fischerei zum Blühen, so wuchs aus dem Meere neuer Mut und neue Widerstandskraft. Schon der Gedanke an die unerschöpfliche Lebensquelle würde Wunder wirken.
    Während der junge Pastor im grünlichen Frühlicht den auf Befehl des Führerrats neu gebahnten Pfad mit großen Schritten hinabsprang, dachte er jedoch weder an Schafe, noch an Milch, ja nicht einmal an seine Fische; sein Herz war ganz anderen, und zwar familiären Beklemmungen ausgesetzt.

Weitere Kostenlose Bücher