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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Was sind das für unnütze Besorgnisse und Wallungen, Aram Tomasian? Du tust ja so, als würde dein kleines Kind, dieser elende Wurm, jemals ein erwachsener Mann werden, für dessen Zukunft du Vorsorge treffen müßtest. Du tust ja so, als ob du mitten in einer regelstrengen Gesellschaft lebtest, in der die Ehre eines Mädchens der Gegenstand eifernder Obhut ist. Doch was hilfts? Dem Menschen ist es durch Gottes Gnade vergönnt, an alles eher zu glauben als an den Untergang, selbst wenn er schon mitten drin steht.
    Das Söhnchen der Tomasians war nun sechzehn Tage alt. Es hatte die großen, uralten Armenieraugen. Sein Blick aber faßte nichts. Und noch immer hatte es nicht geschrien. Wenn es einen Laut von sich gab, so war es bloß ein tonloses Wimmern. Von Tag zu Tag grausamer schwand die Hoffnung auf einen Irrtum hin. War es blind und stumm geboren? Das Feuermal aber wuchs, dieses rätselhafte Zeichen, das der Musa Dagh selbst mit unsichtbarem Petschaft auf die Brust seines ersten Sprößlings gepreßt zu haben schien. Wen alles hatten die Tomasians wegen ihres Unglücks nicht schon zu Rate gezogen? Ganz abgesehen von Bedros Hekim und Mairik Antaram, der offiziellen Heilkunde, die verschiedensten weisen und unweisen Frauen, die es im Lager gab. Sie bekamen stets das gleiche zu hören, schlüssige und billige Erklärungen des Unglücks nämlich, die keinen Weg der Hilfe wiesen: die schweren Erlebnisse Howsannahs in Zeitun, die Deportation, die harte Reise nach Yoghonoluk, und dann wiederum Erregung und Flucht, all diese Schrecknisse hätten das Kind im Mutterleibe geschädigt. Was aber konnte man mit solchen Tröstungen anfangen? Da hier kein vernünftiges Mittel half, hätte sich Howsannah am liebsten den Künsten einer Nunik anvertraut. Seit der türkischen Invasion im Tale aber zeigten sich die Wehmütter des Todes und Gebärens nicht mehr auf dem Damlajik.
    Jene einleuchtenden Gründe aber, die das furchtbare Schicksal ihres Kindes so logisch erklärten, genügten Howsannah ganz und gar nicht. Sie selbst fühlte sich von Gott geschlagen. Nicht umsonst war sie in einem pietistischen Vaterhaus aufgewachsen. Ein Kind soll Gnade sein. Dieses Kind aber war Strafe. Strafe erfließt aus Gott für Sünde. Sie war sich keiner Sünde bewußt. Auch nicht in den heimlichsten Winkeln ihrer Gewissensforschung konnte sie sich Aram gegenüber einen Vorwurf machen. Da aber Schuld zweifellos vorhanden war, so lag sie in anderen, und zwar klarerweise in ihrer engeren Umgebung. Aram schied von jedem Verdachte aus. Howsannah war eine fanatische Gattin, die an ihrer Ehe keinen Makel sah. Wo aber lag dann die Sünde, deren Schatten auf ein unschuldiges Kind fiel? Da war zunächst die erste Ursache des Fluches, Juliette Bagradian. In ihr, der Ehebrecherin, der Kleidernärrin, der Gottlosen, der Fremden, sah Howsannah den Inbegriff der Sünde, deren Folgen fressend ausstrahlten wie Krebs. Und man lebte schamlos in ihrem Bannkreis, man wohnte in ihrem Zelt, schlief in ihrem Bett, man aß auf ihren Tellern ihre Speisen, weil man abhängig war von gleisnerischem Tand, weil man auf solche Bequemlichkeiten nicht verzichten wollte, weil man zu der von Gott verhängten Armut, wie sie in allen anderen Familien herrschte, nicht die Reinheit besaß. Howsannahs Gedanken aber blieben hiebei nicht stehn. Langsam drang die Wahrheit zum Herzen, das gierig nach ihr griff: Iskuhi. Kein Zweifel! Howsannah wußte, wie es um die junge Schwägerin stand. Eine ehebrecherische Person auch sie, ohne Halt, ohne Glauben, zur Sünde rücksichtslos entschlossen! War sie nicht immer starrköpfig, ichbesessen, vergnügungstoll gewesen, in Zeitun schon, als Aram seiner Frau die harte Forderung gestellt hatte, mit einem solchen Geschöpf in gemeinsamem Haushalt zu leben? Aber Aram wollte ja niemals die Wahrheit sehen und es war einfach unmöglich gewesen, ein offenes Wort über Iskuhi, das geliebte Schwesterchen, zu wagen. Als Howsannah Tomasian während der Taufe ihres armen Kindes weinend davongelaufen war, da hatte sie die Zusammenhänge wie in einer unbestimmten Vision vorausgeahnt, ohne das geringste zu wissen. Jetzt aber wußte sie alles, sie wußte, daß ihr Kind unter Gottes Fluch stand. Sie weinte nicht mehr. Mit geballten Fäusten ging sie die fünf Schritte, die das Zelt maß, unablässig hin und her wie eine Wahnsinnige in der Zelle. In dieser Nacht aber hatte Howsannah nicht länger mehr geschwiegen, sondern von Aram verlangt, er möge sie am Morgen schon

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