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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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erschienen. Der Priester stand starr am Kopfende der Bahre, die Augen halb geschlossen, die Hände fröstelnd in den Kuttenärmeln verborgen. Die knochig nachdenklichen Finger des alten Arztes entblößten für einen Augenblick die Wunden des erstarrten Knabenkörpers. Dann glätteten sie aber mild und begütigend wieder die Hülle. Der Tag entfaltete sich. Aus den Hüttengassen und von den nächstgelegenen Stellungen strömte es rasch zusammen und umdrängte den Altar. Man hatte nach den drei Schlachttagen gar viele Tote gesehen und beklagt. Dieser Tote aber war mit jenen nicht zu vergleichen. Viele wußten, daß hier ein Opfer gefallen war, das mehr bedeutete. Große Stille! Selbst die Halbwüchsigen, um die Stephan in seinem Streben nach Echtheit so töricht geworben hatte, auch diese Immer-Unruhigen blinzelten jetzt scheu und ehrfürchtig zu seinem elfenbeinzarten Antlitz hin. Nun erst hatte er sie unterworfen. Hagop aber, der Einbeinige, war zu Hause geblieben und verkroch sich unter seinen Decken. Nur die Witwe Schuschik zerriß die Stille mit ihren langen, häßlichen Schreien. Es waren Laute eines röhrenden Wilds, die Haiks Mutter ausstieß, ehe sie noch den Leichnam des Bagradian-Sohnes gesehen hatte. In ihrer Seele blieb Stephans und Haiks Schicksal ein und dasselbe, auch dann noch, als sie sich überzeugen konnte, daß ihr Sohn nicht auf der Bahre lag. War der eine gefangen und erschlagen worden, mußte auch den andern das Massaker ereilt haben. Nunik, Wartuk, Manuschak aber hatten die Leiche ihres Sohnes den Hunden überlassen, weil es nur ein einfacher Bauernjunge war, um den sich niemand kümmerte. Schuschik schrie vor sich hin, nicht wie eine Leidensmutter, sondern wie ein wundes Tier, das in solchen Schreien sein Leben erbricht. Einige Frauen nahmen sie in die Mitte, sie, die auch hier auf dem Damlajik ganz einsam lebte und mit ihrer Nachbarschaft nach wie vor keine Beziehungen anknüpfte. Jetzt aber flüsterte es von allen Seiten auf sie ein. Sie möge doch den Mut nicht sinken lassen. Das Geschehene weise ja deutlich daraufhin, daß sich Haik gerettet habe und heute oder morgen schon in Jacksons Hut sein werde. Wäre er abgeschlachtet worden, läge er gewiß auch hier. Der junge Bagradian habe nicht Haiks Kraft und Gewandtheit besessen, die diesen mit des Erlösers Hilfe glücklich ans Ziel führen werde. Schuschik hörte den Zuspruch nicht. Sie stand vornübergebeugt, die Hände auf ihre Brüste pressend, und schrie dumpf die Erde an. Man rief Nunik als Zeugin herbei. Die Alte schlug den Schleier von ihrem zerfressenen Gesicht zurück. Trotz des todbedrängten Lebens im Tale besaß sie noch immer heimliche Nachrichtenquellen, die nicht versiegt waren. Sie schwor, daß der Bagradiansohn allein und ohne einen Begleiter in der Nähe des Dorfes Ain Jerab von zwei der neuen Häusler aufgegriffen und nach Yoghonoluk zum Müdir geführt worden sei. Doch auch die Wahrheit half nichts. Schuschik glaubte sie nicht. Da begannen die Frauen auf einen Wink Ter Haigasuns sie vorsichtig von der Bahre fort gegen die Hauptstraße der Hütten abzudrängen. Sie wagten es dabei kaum, die Riesin anzurühren, deren mächtige Glieder eine sagenhafte Furcht erweckten. Witwe Schuschik aber ließ plötzlich alles mit sich geschehen. Die Frauen verdoppelten ihr Trostgeflüster. Und wirklich, Haiks Mutter schien sich zu beruhigen, schien Hoffnung zu fassen, je weiter sie sich von dem Toten entfernte. Eine große Sehnsucht nach menschlicher Wärme sprach aus ihrem kleinen Kopf, der kraftlos auf die rechte Schulter fiel, und aus ihrer überhohen Gestalt, die sich zu den zierlichschmächtigen Armenierfrauen tief hinabbeugte. Sie umschlang mit ihren Armen zwei dieser Frauen und ließ sich ohne Widerstand fortziehen.
    Als aber Gabriel Bagradian, von dem weinenden Awakian gefolgt, auf dem Altarplatz erschien, näherte sich ihm keine Seele. Im Gegenteil. Die Menge zog sich ziemlich weit zurück, so daß zwischen ihm und dem Altar eine frei Bahn entstand. Sogar die Klageweiber und Bettler erhoben sich und verschwanden unter dem Volk. Nur Ter Haigasun und Bedros Hekim blieben auf ihrem Platz. Gabriel aber fing nicht zu laufen an, sondern verlangsamte sogar seinen Schritt. Was er in fünf Tagen und Nächten sich in jeder Möglichkeit fieberhaft grausam ausgemalt hatte, nun war es da. Keine Kraft blieb mehr übrig, die Wirklichkeit auszukosten. Er durchmaß zögernd Schritt für Schritt den Abstand zwischen sich und seinem Sohne, als

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