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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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des Kranken. Seine Verlassenheit war der Zeit nach eine doppelte, denn er schlief von vierundzwanzig Stunden kaum eine oder zwei, und zwar stets nur gegen Mittag. Die Nacht hingegen war wie bei gar vielen Weisen und Geistesgrößen die Zeit seines hellsten, hochbewegten Lebens. In den ersten beiden Nächten von Kilikians Gefangenschaft hatte Krikor die Gegenwart eines Menschen in dem versperrten Kotter als unerträglich störend empfunden. In der dritten Nacht verwandelte sich dieses Gefühl der Störung in ein merkwürdiges Bedürfnis, den Gefangenen zu sehen und mit ihm zu sprechen. Nur die Rücksicht auf die Autorität des Führerrates, dem er ja selbst angehörte, hatte es verhindert, daß er diesem Bedürfnis nachgab. In der vierten Nacht aber wurde es in der tiefen Einsamkeit so stark, daß sich Krikor nicht mehr bezwingen konnte. Unter den größten Schmerzen stand er von seinem Bett auf, schleppte sich zu der Tür, die in den Kotter führte, zog den Schlüssel aus dem Versteck und schloß mit seiner verschwollenen und verknoteten Hand mühsam auf. Sarkis Kilikian lag auf seiner Matte mit offenen Augen. Der Apotheker hatte ihn nicht geweckt und der Besuch versetzte ihn keineswegs in Staunen. Die Hände und Füße des Russen waren gefesselt, doch so gnädig, daß er sich bequem bewegen konnte. Krikor stellte die Petroleumlampe auf den Boden und ließ sich neben ihr nieder. Kilikians Fesseln beschämten seine Seele. Um der Gleichberechtigung willen hielt er ihm seine eigenen armen Hände hin:
    »Wir beide sind gefesselt, Sarkis Kilikian. Meine Fesseln aber schmerzen mehr als die deinen und ich muß sie auch morgen noch tragen. Beklag dich nicht.«
    Kilikian sah ihn voll aus seinen apathischen Augen an:
    »Ich beklage mich nicht.«
    »Vielleicht aber wärs besser, du würdest dich beklagen …«
    Der Apotheker reichte dem Gefangenen seine Rakiflasche. Dieser tat einen nachdenklichen Schluck. Auch der Alte trank aufmerksam. Dann betrachtete er den Russen:
    »Ich weiß, daß du studiert hast … Vielleicht hättest du in diesen Tagen gerne ein Buch gelesen?«
    »Zu spät kommst du damit, Apotheker.«
    »In welchen Sprachen kannst du lesen, Kilikian?«
    Der Russe brummte, als verrate er dergleichen nicht gerne:
    »Auch französisch und russisch, wenn es sein muß.«
    Krikors glatter Mandarinenkopf mit dem wippenden Bocksbärtchen nickte traurig:
    »Da sieh nur, was du für ein Mensch bist, Kilikian …«
    Der Deserteur gluckste sein grundloses langsames Lachen, das schon Gabriel Bagradian in jener Nacht der Zeltprobe entsetzt hatte. Krikor aber ließ sich nicht beirren:
    »Du hast ein unglückliches Leben gehabt, ich kenne es … Aber warum? Hat man dich nicht nach Edschmiadsin geschickt? Hast du nicht im Seminar gelebt, Tür an Tür mit der herrlichsten Bibliothek der Welt? Ich war nur einen einzigen Tag dort, aber am liebsten wäre ich bis ans Lebensende unter jenen Büchern geblieben … Und du bist durchgebrannt …«
    Sarkis Kilikian stützte sich halb auf:
    »Sag einmal, Apotheker, du hast doch früher geraucht … Ich habe seit fünf Tagen keinen guten Atemzug gemacht.«
    Krikor raffte stöhnend sein lahmes Gebein zusammen und brachte dem Gefangenen seinen Tschibuk samt der letzten Büchse Tabak, die er besaß:
    »Nimm das nur, Kilikian! Ich hab auch diesen Genuß aufgeben müssen, weil ich die Pfeife nicht mehr halten kann.«
    Sarkis Kilikian hüllte sich sofort leidenschaftlich in Dampf. Der Apotheker aber hob die Lampe und leuchtete ihn an:
    »Und doch bist du selbst schuld an deinem Unglück, Kilikian … Ich sehe deinem Gesicht an, daß du ein Mönch bist, ich meine damit nichts Pfaffenhaftes, sondern einen, der in seiner Zelle die ganze Welt besitzt … Deshalb ist auch die Sache mit dir so übel ausgefallen. Warum bist du durchgegangen? Was hast du in der Welt zu suchen gehabt?«
    Sarkis Kilikian gab sich so ausschließlich dem Rauchen hin, daß es gar nicht deutlich wurde, ob er Krikors Reden hörte und verstand.
    »Ich werde dir etwas sagen, mein Freund Sarkis … Es gibt zwei Arten von Menschen. Die einen, das sind die Menschentiere, die Milliarden! Die andern, die Menschenengel, zählen Tausend oder bestenfalls Zehntausend. Zu den Menschentieren gehören auch die Großen der Welt, die Könige, die Politiker, die Minister, die Generale, die Paschas, ebenso wie die Bauern, die Handwerker und Arbeiter. Sieh dir den Muchtar Kebussjan an! So wie er sind sie alle. Sie haben in tausend Formen

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