Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
gesellschaftlich geächtet waren. Hier zeigte es sich, daß selbst eine unausdenklich niedrige Klasse der Menschheit immer noch ein Objekt finden kann, mit dem »zu verkehren« sie zu hochmütig ist. Die Närrinnen ließen ein aufdringliches Geplauder hören, als wollten sie damit diejenigen, von welchen sie geächtet wurden, ihren überlegenen Gleichmut fühlen lassen. Der Gang des Totenpomps wurde dadurch nicht beschleunigt, daß die blinden Bettler mit ihren hochgesträubten Prophetenhaaren die Bahre trugen. Als die einzigen Männer, deren Arme und Beine noch einen Rest von Kraft besaßen, hatte Nunik sie zu Trägern bestimmt. Sie selbst schritt voraus. Wartuk und Manuschak aber lenkten die Blinden mit ihren langen Hirtenstöcken an Stämmen, Sträuchern, Steinblöcken vorbei, wie man schlapp dahinnickende Büffel des Weges treibt. Der weißumhüllte Leichnam des Bagradian-Sohnes lag auf einer der altertümlichen und reichgeschmückten Totenbahren, von denen in der Kirche und auf dem Friedhof von Yoghonoluk noch immer ein Dutzend zu finden war. In segensreichen Friedensjahren, wenn sich im Orte wochenlang kein Todesfall ereignet hatte und die Einkünfte des Küsters daher zu schrumpfen begannen, schlich sich dieser nachts in die Kirche, um mit einem Klöppel die faulen Bahren zu schlagen. Dabei flüsterte er die Beschwörung, die ihm sein Vorgänger im Amt als probates Mittel überliefert hatte, den müden Tod zu bekehren: »Holz wach auf und gib mir Brot!«
    Sato umkreiste das Begräbnis wie eine junge Hündin, die ein drei- und vierfacher Weg nicht schreckt. Sie drängte sich immer wieder an die Bahre heran, die mit den tappenden Blindenschritten vorwärtsschwankte. Ihre mitleidlosen und gierigen Augen tasteten die kindliche Gestalt ab, die sich unter dem Laken verbarg. Gar zu gerne hätte Sato das Tuch von dem Gesicht gehoben, um nachzusehen, wie Stephan im Tode lebte. Als dann die Höhe fast erklommen war, trennte sie sich von dem Zug und rannte lagerwärts. Sie wollte die erste sein, die Awakian und Kristaphor weckte und dem Volke als Heroldin den Tod des Bagradian-Sohnes verkündete. Kurz nach Sonnenaufgang erreichte der Tote und sein tappendes und hinkendes Gefolge den großen Platz. Die Bahre wurde zu Füßen des Altars niedergestellt. Die Klageweiber mit ihrem Troß hockten sich ringsumher. Nunik enthüllte das Antlitz des Knaben. Sie hatte Ter Haigasuns Auftrag erfüllt, so gut es ging. Der Lohn war fällig und konnte nicht streitig gemacht werden. Schon erhob sich, kaum hörbar, das zittrige Gesumme der Totenklage.
    Stephan war nun ganz und gar zu dem orientalischen Prinzen geworden, den seine Mutter mit Schreck in ihm gesehen, als er das erstemal die einheimische Kleidung trug. Obgleich Nunik vierzig Wunden gezählt hatte, Stiche, Hiebe, Quetschungen über den ganzen Körper, obgleich das Rückgrat gebrochen und die Kehle durch einen grauenvollen Schnitt durchtrennt war, zeigte das Gesicht des Toten keinerlei Entstellung. Hinter den für ewig versiegelten Lidern schien Stephan noch immer den ersehnten Vater aus jenem hohen Bahnhoftor treten zu sehn. Das Lächeln der Befriedigung, weil Papa ihn wieder in den Armen hielt, hatte der vierzigfache Mord aus seinen Zügen nicht vertilgen können. Er war gestorben, ohne dabeigewesen zu sein. Nur wie ein fernes Gerücht hatte ihn durch Gottes Gnade der bestialische Martertod berührt. Jetzt erst schien er ganz eins mit sich selbst zu sein, der sehnsüchtige Prinz.
    Der erste, welcher den Altarplatz betrat und vor der Bahre und dem umlagerten Altar zurückstaunte, war Krikor, der Apotheker.
     
    Am verwichenen Abend war Sarkis Kilikian durch Ter Haigasun persönlich aus der Haft zu seiner alten Einteilung in der Südbastion entlassen worden. Krikor sah den Russen nur ungern scheiden, der in der Eigenschaft eines Strafgefangenen einige Tage und Nächte lang die Baracke mit ihm geteilt hatte. Der Apotheker war in seiner Krankheit schon längst völlig verlassen. Seine Jüngerschaft, die Lehrer, kamen nicht mehr zu ihm, nicht nur wegen der Kriegsdienste, die sie leisten mußten, sondern weil sie als frischgebackene Männer der Tat eine leise Verachtung für ihre schwärmerische Vergangenheit hegten. Gonzague Maris, mit dem er gerne gesprochen hatte, war geflohen. Bedros Hekim, sein alter Freund, schlurfte, selbst ein klappriges Wrack, dann und wann zu Krikors Lager und besah mit ebenso tiefsinnigem wie hilflosem Kopfschütteln die entstellten Glieder und Gelenke

Weitere Kostenlose Bücher