Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
damit, daß ihn ein stilles Bewußtsein durchflutete, so, als poche jeder Schlag des versickernden Pulses: Ich bin die erste Person, ich bin die erste Person. Dann begann das, was Krikor von Yoghonoluk hieß, zu wachsen. Dies aber ist schon eine Fälschung. Worte, die nach Zeit und Raum gerichtet sind, drücken es nicht aus. Vielleicht wuchs nicht das, was Krikor von Yoghonoluk hieß, sondern das, was die Welt war, schrumpfte ein. Ja, die Welt zog sich mit rasender Schnelligkeit zusammen, die Baracke, die Stadtmulde, der Musa Dagh, die Heimat unten und was sie umgab. Anders konnte es gar nicht sein. Sie hatte keine Dichtigkeit, da sie aus der Asche verbrannter Sterne bestand. Zuletzt war nur mehr Krikor von Yoghonoluk allein da. Er war das All, nein, er war mehr als das All, denn die Nachtfalter der Welten tanzten um sein Haupt, ohne daß er es merkte.

Fünftes Kapitel Die Altarflamme
    Ter Haigasun hatte nach einer langen Rücksprache mit Pastor Aram und Altouni die Verfügung getroffen, es solle mit den vorhandenen Resten nicht mehr gespart werden. Wars nicht ganz und gar sinnlos, das Leben zu strecken und damit auch seine Qual? Schon gab es, ehe der wirkliche Hunger noch eingesetzt hatte, Entkräftete genug, Weiber, Kinder, alte Leute, die einfach hinfielen und nicht wieder aufstanden. Dieses langsame Aufgeriebenwerden entpuppte sich als die schlimmste Form des Untergangs. Der Priester war willens, den Prozeß abzukürzen. Besser, noch ein paar Tage lang sich sattzuessen und dann dem Nichts gegenüber zu stehn, als dieses Nichts um den Preis ewig brennender Eingeweide für eine lächerliche Spanne hinauszuschieben. In den ersten Septembertagen wurden also die zwei mageren Kühe des Hauses Bagradian sowie alle Ziegen, Böcke und Geißen geschlachtet, ohne Rücksicht auf die Milch, die ihrer Menge und ihrem Gehalt nach nichts mehr bedeutete. Dann kamen die Pack- und Reitesel an die Reihe, deren ledernes Fleisch freilich weder am Bratspieß noch auch im Kochtopf gar zu bekommen war. Immerhin, das Großvieh ergab, bis auf Knochen und Blut verwertet, mit Schwanz, Haut, Huf und Kutteln, mächtige Nahrungsberge, welche die Mägen zugleich füllten und peinigten. Dazu kam noch der Zucker und Kaffee Rifaat Berekets, ungefähr ein viertel Pfund auf jeden Haushalt. Der Sud aber wurde immer wieder von neuem aufgekocht, so daß die Kaffeekannen, dem evangelischen Ölkrüglein gleich, nicht leer wurden. Von diesem Trank ging, wenn auch nicht Heiterkeit und Zuversicht, so doch eine angenehme Ergebung in die Minute aus. Als beinahe ebenso wichtig erwies sich der Tabak. Ter Haigasun hatte es mit großer Weisheit gegen die widerstrebenden Muchtars durchgesetzt, daß der Löwenanteil, vier ganze Ballen, an die Männer der Südbastion verteilt werde, an Tunichtgute und unsichere Kantonisten also. Sie durften nun im Rauche schwelgen wie nicht einmal in ihren besten Lebenszeiten. Dieses Wohlbehagen sollte es verhindern, daß sie auf unnütze Gedanken kämen. Auch Sarkis Kilikian lag, vom Tabakgenuß völlig ausgefüllt, auf dem Rücken und schien gegen die Weltordnung derzeit nichts einzuwenden zu haben. Lehrer Hrand Oskanian freilich war Nichtraucher.
    Diesen leichtsinnigen, aber lebensfördernden Maßnahmen standen zwei andre bedachtsame und nächtige gegenüber. Ter Haigasun hatte sie in einem langen Zwiegespräch dem Arzte abgerungen. Altounis Gesicht, runzlig wie ein welkes Blatt, wurde immer trockener und brauner. Ein Husten erschütterte seinen dürren Brustkasten, das tiefere Unbehagen verschleidernd. So wenig Bedros Hekim auch vom Leben hielt, er hatte mit letzter Kraft für seine Erhaltung hier oben gekämpft. Jetzt aber mußte er einsehen, daß Ter Haigasun im Recht war. Die Umstände vertauschten die Rollen der beiden Männer. In dieser Sache entschied der Priester gottloser als der Arzt.
    Am vierunddreißigsten Exilstag, vierundzwanzig Stunden nach Krikors Tod, befanden sich auf dem Infektionsplatz etwa zweihundert Kranke, im und um den alten Lazarettschuppen aber mehr als hundert, außer den Schwerverwundeten jene Entkräfteten zumeist, die während der Arbeit oder auf dem Wege zusammengebrochen waren. Angesichts eines Volkes von fünftausend Seelen konnte dieser Krankenstand, zu dem ja auch die Verwundeten gehörten, noch immer nicht beängstigend erscheinen. An diesem Tage aber schoß, unvermittelt und unbegründet, die Kurve der Sterblichkeit wild in die Höhe. Bis zum Abend erloschen dreiundvierzig Menschenleben und

Weitere Kostenlose Bücher