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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nicht an jenes. Wer dieses Leben verlor, der verlor, seiner Meinung nach, nicht nur nicht viel, sondern nichts. Dieses Nichts aber war umgekehrt auch alles. Niemand hatte etwas anderes zu verlieren als dieses All-Nichts. Es kam nur darauf an, wie er es selbst einschätzte. Bedros Hekim aber wußte nicht, wie zum Beispiel diese junge Frau hier zu seinen Füßen, die ihn mit glänzenden, gleichsam überfüllten Augen anstarrte, ihr eigenes Leben einschätzte. Vielleicht konnte sie, auch wenn sie nicht genas, noch einmal fünf Minuten lang irgend ein irdisches Glück genießen. Darum zögerte er, der Lebensverächter. Für Ter Haigasun aber bedeutete das Fünf-Minuten-Glück dieser Frau gar nichts gegenüber einem reinen Eintritt in die Ewigkeit. Sprach der Arzt kein klares Ja oder Nein, so ging der Priester ruhig weiter. Einer von seinen Diakonen aber, der den beiden Männern folgte, steckte links neben dem Kopf des Kranken ein kleines Stöckchen in die Erde. Das war ein Zeichen für den Wärter, sie sollten, wenn der Sterbende keinen Wunsch mehr äußere, ihm auch nichts mehr aufdrängen. Manchmal kehrte Altouni verstohlen zurück und zog das Stöckchen aus der Erde. Wie merkwürdig! Der Priester rechnete fest mit dem Untergang und glaubte dennoch an ein Wunder. Der Arzt glaubte fest an den Untergang und rechnete trotzdem mit einem tollen Zufall, der den Tod abwenden werde. So ähnlich diese Regungen auch schienen, sie waren voneinander sehr verschieden. Sowohl Ter Haigasun als auch Bedros Hekim schwiegen darüber.
    Kework aber, der Tänzer, bekam viel Arbeit.
     
    Zu unerwarteter Zeit kehrten die Schwimmer aus Alexandrette zurück.
    Am frühen Morgen tauchten die beiden jungen Leute bei der Nordstellung auf. Sie waren glücklich durch die weitgezogenen Patrouillenketten der Saptiehs und Soldaten geschlüpft, die alle Höhenzüge des Musa Dagh seit zwei Tagen umspannt hielten, von Kebussije bis zum Küstendorf Arsus im Norden hin. Der körperliche Zustand der Schwimmer widersprach der Dauer und den Strapazen ihres zehntägigen Abenteuers. Sie waren zwar mager wie Gerippe, aber wie sehnig federnde Gerippe, sonnen- und salzluftfarben. Am sonderbarsten erwies sich ihre Tracht. Der eine trug einen abgeschabten, ehemals eleganten Herrenschlafrock aus brauner Wolle, der andre eine weiße Flanellhose und dazu das Wrack eines Smokings aus der mythischen Urzeit dieser Kleidungsart. Beide schleppten je einen schweren Sack mit hartem Militärzwieback auf dem Rücken, das Zeichen eines heroischen Volksdienstes, wenn man an die fünfunddreißig englischen Meilen Gebirgsstrecke zwischen Damlajik und Alexandrette denkt.
    Erfüllte die Heimkehr der Schwimmer die schnell zusammenströmenden Menschen mit Jubel, so war der Bericht der Boten danach angetan, den allerletzten Hoffnungsschimmer erlöschen zu lassen. Sechs Tage lang hatten sie sich in Alexandrette aufgehalten, ohne daß sich im Außenhafen auch nur die Spur eines Kriegsschiffes gezeigt hätte. An der Reede lagen eine Menge alter türkischer Schepperkasten, Kohlenschuten, Fischerschaluppen und ein vom Krieg überraschter russischer Handelsdampfer. Die riesige Bucht aber, die den rechten Winkel zwischen Kleinasien und Asien bildet, lag leer, so leer wie die Küste im Rücken des Musa Dagh. Seit vielen Monaten hatte niemand in Alexandrette, nicht einmal in der undeutlichsten Ferne auch nur die Ahnung eines Kriegsschiffes zu Gesicht bekommen.
    Verständlicherweise waren die Jünglinge viel weniger von der Vergeblichkeit als von dem bunten Eifer ihres Unternehmens und der überstandenen Gefahr erfüllt. Sie erzählten im ungeordneten Durcheinander. Eifersüchtig nahm einer dem andern das Wort vom Munde. Sehr ausführlich schilderten sie Tag um Tag ihrer Expedition. Wenn einer eine Kleinigkeit vergaß, wurde der andre ungeduldig. Die Menge aber, ihrer eigenen Lage vergessend, konnte von all diesen Einzelheiten nicht genug bekommen. Manches deutete darauf hin, daß die Schwimmer während ihres langen Ausbleibens auch eine Zeit stattlichen Wohlergehens erlebt haben mußten, wie es auf dem Damlajik nicht mehr vorstellbar war.
    Am ersten Tag nach ihrer Nachtwanderung hatten sie, immer auf der Gebirgshöhe, das Ras el Chansir abgeschnitten und waren unbehelligt auf die Küstenstraße gelangt, die von Arsus in die Hafenstadt führt. Einen ganzen Tag verbrachten sie dann auf einem Hügel in der nächsten Umgebung von Alexandrette, wo sie hinter der sicheren Deckung von dichtem

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