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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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und einigen andern Bettlern, Krüppeln, Geisteskranken jenseits dieser Stufenleiter. Wenn man ihm Arbeit gab, erhob man Kework über seine Klasse und adelte ihn gewissermaßen zum Proleten. Er fühlte sich erwünscht, gebraucht und mithin beglückt. Auch jetzt war dem so. Kework ließ es nicht zu, daß ihm ein andrer auch nur den kleinsten Anteil seiner Würdigkeit raube. Er nahm den Leichnam in Empfang und stieß die beiden Männer, die ihm helfen wollten, mit den Ellenbogen zurück. Das Meer schien noch eine Sternspur der vergangenen hellen Nächte zu bewahren. Von den weißen Kämmen draußen stieg eine Lichtahnung auf und ließ die Gestalt des Tänzers scharf hervortreten. Einige Laternen bezeichneten den drohenden Rand des Felsens. Trotz der Laternen aber wars ein grausam gefährliches Werk, das man Kework aufbürdete. Die Schüsselterrasse lag nämlich auf der sogenannten Hohen Wand, die vollkommen lotrecht mehr als vierhundert Meter in die Tiefe sauste. Unten hatte sich das Meer so tief in den Fuß der Hohen Wand eingefressen, daß die Felsplatte wirklich wie auf einer ausgestreckten Hand frei im Raume schwebte und die Brandung von oben nicht sichtbar war. Ein falscher Schritt auf diesem gigantischen Schiffsbug und der schnellste und gründlichste Tod war sicher. Den Tänzer aber faßte jetzt in tiefer Nacht keine Angst und nicht der leiseste Schwindel an, während sich die andern Männer eilig zurückzogen. Auf dem schmalen, schwacherleuchteten Rande tanzte er wirklich und wiegte sich und den Toten, einer gewaltigen Amme gleich. Seine Hände schwangen den entseelten Körper, der in seinem dreifach zugeknüpften Hemd noch durch einen Stein beschwert war, leicht und wägend hin und her, ehe sie ihn mit einem flachen unglaublichen Schwung weit hinaus schleuderten. Der Leichnam versank lautlos und unsichtbar in der Nacht. Kework hatte, trotz der lächerlich geringen Nahrung, die ihm seit vielen Tagen zugewiesen wurde, nichts von seiner Kraft verloren. Als er, nach einer Stunde etwa, sich rhythmisch auf seinen gespreizten Beinen wiegend, den dreiundvierzigsten Toten mit leichtem Schwung in der Unendlichkeit verschwinden ließ, schien er dann über die leeren Hände und die beendete Arbeit sehr traurig zu sein. Gerne hätte er vierhundert, tausend, das ganze Volk so sanft gewiegt und zur Ruhe gebracht. Ein unbeteiligter Zeuge wäre erstaunt gewesen, wie ohne Grauen diese Bestattung war, ja wie schön.
    Nicht hierum jedoch hatte es sich in dem Gespräch zwischen Ter Haigasun und Bedros Hekim gehandelt, denn dieser kämpfte nicht um die Toten, sondern um diejenigen, welche noch lebten. Der Priester vertrat die für seinesgleichen kühne Meinung, es sei besser, die Kranken, die sich schon hoffnungslos an der Grenze befänden, ruhig hinüberzulassen, jene vor allem, die nicht bei Bewußtsein waren oder wunschlos vor sich hindämmerten. Der Arzt gab zu, daß die Kranken in diesem Zustand nicht nur nicht nach Nahrung verlangten, sondern sich wehrten, wenn ihnen die Pfleger die kärgliche Milch oder Suppe brachten. Sie würden darunter nicht leiden, wenn man sie ohne Unterbrechung träumen und im Traum verschmachten ließe. Ter Haigasun dachte dabei am wenigsten an den Verpflegsgewinn für die gesunden Kinder, auch die Entlastung der Lebensfähigen von den Todgeweihten bekümmerte ihn nicht sehr. Ihm war es darum zu tun, alle jene, denen Gott die Gnade eines schönen Sterbens väterlich vors Auge hielt, um dieses Geschenk nicht zu bringen, nur damit ihr Leben für die Türken aufgespart werde. Der Arzt und der Priester gingen durch die Reihen der beiden Lazarettplätze. Altouni mußte über jeden Kranken das Lebens- oder Todesurteil aussprechen. Nur in den offensichtlich hoffnungslosen Fällen entschied er sich sofort. Hier konnte man das Leiden um einen oder zwei Tage abkürzen. Fand er aber auf irgend einer Miene, in irgend einem Pulsschlag noch eine Spur von Zukunft, so begann er für den Kranken zu kämpfen, besonders wenn es sich um jüngere Menschen handelte. Der Priester schien weniger mitleidig zu sein als der Arzt. Für ihn besaß der Mensch dieses Leben und das ewige. Dieses war, solange man lebte, nicht unwichtiger als jenes. Wer es aber auf natürlichem Wege verlor, verlor nicht viel, ja mußte sich noch selig preisen, daß er nicht durch den höllischen Schreck der Ermordung an seiner ewigen Seele Schaden nahm. So dachte der Priester in der Tiefe seines Herzens. – Der Arzt glaubte nur an dieses Leben und

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