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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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daß auch der grausamste Deportationsmarsch nicht entmenschender wirkte als dieses Abgeschnitten- und Ausgespiensein. Er glaubte zu verstehen, wie sehr das Zerstörungswerk an den Seelenkräften das Mordwerk an den Leibern übertrifft. Nicht die Ausrottung eines ganzen Volkes war der Greuel schlimmster, sondern die Ausrottung der Gotteskindschaft in einem ganzen Volk. Das Schwert Envers hatte, als es die Armenier traf, Allah selbst getroffen. Denn in ihnen wie in allen Menschen wohnte Allah, wenn sie auch Ungläubige waren. Wer aber in einem Geschöpf die Würde vernichtet, der vernichtet den Schöpfer in ihm. Dies ist der Gottes-Mord, die Sünde, die bis ans Ende der Zeit nicht vergeben wird. Rifaat Bereket, der fromme Derwisch, der sich der andern Welt und dem Schicksal der hingeschiedenen Seelen in seinen Meditationen und Tarikaats-Übungen oftmals genähert hatte, sah in seinem Geiste grauenvolle Bilder. Auch drüben, vor den Toren der Aufnahme, vor den Pforten der Harmonie schleppten sich schwelende Deportationszüge, ohne Einlaß zu erhalten. Zusammengepferchte Transportlager der Seelen, die nicht aufsteigen durften, weil ihnen die lange Marter, die lange Ausgestoßenheit jede Flugkraft genommen hatte. Heillose Zufluchtnester dort, wie hier auf dem Musa Dagh. Zusammenrottungen brennender Hungerblicke, die auch noch im Jenseits zur astralen Bettelschaft und zum lichtscheuen Geducktsein verurteilt sind. Dem alten Manne wars, als ginge er durch eine dicke Aschenwolke, durch die Todeswolke des armenischen Volkes, die in unauflöslichen Schwaden zwischen hüben und drüben lagert. (Er atmete wirkliche Asche ein, ohne es zu merken, die letzten Spuren des zusammengeglühten Waldbrandes, die in beklemmenden Nebeln mit dem Landwind nach Westen zogen.) Nahm dieser Weg durch das armenische Schicksal kein Ende? An seinem Stock ging der Agha, immer älter werdend, immer tiefer gebückt. Er sah nur mehr die Erde an, die dies alles gebar und dies alles ertrug. Seine kleinen Füße in den weichen Schuhen trippelten eifrig, des Gehens ungewohnt. Den weißen Bart fest an die Brust drückend, lief er eilig wie ein Fliehender, der um seine letzte Kraft bangt. Sein Ohr hörte nicht mehr die flehenden Laute, die beschwörenden Aufträge ringsum. Nur fort! Doch die Kraft Rifaats reichte nur bis zum ersten Graben der Nordstellung. Dort überfiel ihn angesichts der gaffenden Zehnerschaften ein heftiger Schwindel, der ihn zu Boden zwang. Die beiden als Eseltreiber folgenden Diener stürzten angstvoll herbei. Der Agha war ein kranker Mann. Der fränkische Hekim in Stambul hatte ihn vor Überanstrengungen gewarnt. Der gesetztere von den beiden Dienern zog aus einem grünen Samtbeutel, den er dem Herrn immer nachtrug, eine Riechflasche und eine Dose mit Lakritzen, die auf das Herz belebend wirkten. Als sich der Agha schnell wieder erholt hatte, lächelte er zu Ter Haigasun und Gabriel Bagradian empor, die sich zu ihm niederbeugten:
    »Es ist nichts … ich bin alt … zu schnell gelaufen … Und dann … Ihr gebt mir zu viel zu tragen …«
    Während er sich mit Hilfe seiner Begleiter erhob, hatte er das bestimmte Gefühl, er werde seine Aufgabe nicht erfüllen können und nicht bis Deïr es Zor gelangen.
    Rifaat Bereket kam mit der Yayli erst gegen Mitternacht in seinem Haus in Antakje an. Seine Glieder waren vor Erschöpfung halb gelähmt. Dennoch aber malte er mit schöngeschnörkelter Schrift noch einen Brief an Nezimi Bey zu Händen des christlichen Geistlichen Lepsius, in dem er über seine erste Aktion Rechnung und Rechenschaft ablegte.
     
    Zur selben Zeit, da Agha Rifaat Bereket den Brief an Lepsius schrieb, löste sich die Seele Krikors von Yoghonoluk aus ihrem gemarterten Körper. Vor dem Schlafengehen hatte Lehrer Hapeth Schatakhian des Apothekers wegen schwere Gewissensbisse empfunden. Nach dem aufregenden Führerrat am frühen Morgen war er blind fortgestürzt, ohne während dieses ganzen schrecklichen Tages auch nur einen einzigen Blick nach seinem alten Meister zu werfen, dem kein Mensch in seiner Krankheit beistand. In der zweiten Nachtstunde betrat der Lehrer und Jünger vorsichtig die Regierungsbaracke, näherte sich auf Zehenspitzen der schwach erleuchteten Koje Krikors, guckte über die Büchermauer hinüber und flüsterte zärtlich, um den Kranken, sollte er schlafen, nicht zu wecken:
    »Apotheker, he, wie gehts?«
    Krikor lag auf dem Rücken. Sein Atem ging schwer. Doch in seinen offenen Augen war tiefe Ruhe.

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