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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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es war zu erwarten, daß ihnen im Laufe der nächsten Stunden noch manche folgen würden. Der Friedhof genügte längst nicht mehr, um so vielen neuen Gästen Herberge zu geben. Der Rand der verhältnismäßig tieferen Erdschicht war schon überschritten. Jetzt stieß der Spaten bereits unter vier Fuß auf den Kalkknochen des Damlajik. Man hätte sich demnach im Umkreis der Möglichkeiten auf die Suche nach einem günstigeren Boden für die ewige Ruhestatt begeben müssen. Dieser aber wäre kaum zu finden gewesen. Auch wars angezeigt, mit der verbrauchten Arbeitskraft höchst vorsichtig umzugehen und sie nicht an den Tod zu verschwenden. Da sich überdies in den Butten kein Körnchen der alten Heimaterde mehr fand, der Ter Haigasun den Abgeschiedenen hätte mitgeben können, blieben diese ganz und gar auf Gottes Allwissenheit angewiesen, daß Er beim letzten Gericht erkenne, wohin sie gehörten. Es blieb demnach gleichgültig, wie und wo sich die Toten nach den Tagen des Musa Dagh ausschliefen. Ihr Schlaf würde ja nach all dem Erlebten tief und fest sein.
    Ter Haigasun führte daher eine neue Begräbnisart ein, ohne sie dem Volke des langen und breiten vorher zu verlautbaren. In später mondloser Nacht wurden die Leichen gesammelt und auf die Schüsselterrasse getragen, die ja wie ein riesiger Schiffsschnabel weit ins Meer hinausragte. Alles mußte mit Hand anlegen, die Pfleger, das Friedhofsvolk und was sonst noch auf der Nachtseite des Lagerlebens beschäftigt war. Drei- und viermal wurde der Weg zurückgelegt, ehe alle Toten in ihren zugebundenen Hemdsäcken auf dem nackten Felsen nebeneinander lagen.
    Seit Neumond hatte das Wetter umgeschlagen. Kein Regen zwar, doch über die Kuppen des Musa Dagh fegte ein unwilliger und aufsässiger Wechselsturm, manchmal als atemberaubender Steppenwind, manchmal als schaumiger Schirokko von der See her, doch immer wieder sich drehend, als wollte er die gebundeneren Elemente, Erde und Wasser, zum Narren halten. Hätte Gabriel Bagradian die Stadtmulde nicht so günstig gewählt, keine einzige Hütte wäre stehen geblieben. Auf der ausgesetzten Schüsselterrasse schien der Sturm seinen Horst zu haben. Wenn er den Felsen ansprang, konnten sich die Menschen kaum aufrecht halten. Die Fackeln und Kirchenkerzen, die das Gefolge trug, wurden im ersten Augenblick ausgeblasen. Nur das silberne Rauchfaß, das der Diakon dem Priester hinhielt, erschimmerte leicht. Ter Haigasun ging mit kleinen Schritten, einsegnend, von einem Toten zum andern. Nunik, Wartuk und Manuschak waren über die Art dieses Begräbnisses äußerst ungehalten, übten aber, da sie auf dem Damlajik nur geduldet waren, keine Kritik. Sie beeilten sich, die Verfehlung des Priesters an den hilfsbedürftigen Seelen gutzumachen, indem sie inbrünstiger als sonst in ihre altheilige Klage ausbrachen. Die erbosten Windstöße nahmen frech den Wettstreit auf. Es kam dabei ein Geheul heraus, daß keiner Seele in dem Kampf gegen die niederziehenden Höllengewalten helfen konnte. Zwei Männer hoben den ersten Toten an Schultern und Füßen hoch und trugen ihn an die Kante der Felsnase heran. Dort aber stand ein mächtiger Kerl auf gespreizten Beinen, fühllos gegen den Sturm, die Hände wie zwei große ungegliederte Lattichblätter in Bereitschaft erhoben. Dies war Kework, der Tänzer mit der Sonnenblume, der Kretin. Man hatte ihm sein Amt mit einiger Mühe klar gemacht. Endlich war er zum Verständnis gelangt, erfreut nickend: »O ja, ganz wie auf den Schiffen …« Dabei hörte man zum erstenmal, daß Kework in seiner Jugend auf einem Kohlenkutter das Schwarze Meer befahren hatte. Der Schwachsinnige besaß ein diensteifriges Herz und nichts befriedigte sein Gemüt mehr, als wenn er sich nützlich erweisen konnte und ihm eine Arbeit anvertraut wurde. Die Art dieser Arbeit spielte keine Rolle. Alle anderen Männer machten hiebei Unterschiede. Für die Mitglieder der hohen Kriegerkaste, für die Leute aus den Zehnerschaften des ersten Treffens, galten alle Arbeiten, die nicht unmittelbar mit der Verteidigung zusammenhingen, für entwürdigend. Die Angehörigen der Reserve wiederum fanden die Tätigkeit der Metzger, Feueranzünder, Krankenpfleger unter ihrem Rang. Diese ihrerseits blickten verächtlich auf die Totengräber herab. Kraft eines unverwüstlichen Menschheitsgesetzes hatte sich auch auf dem Damlajik eine Hierarchie herausgebildet, deren Gründe hier ebenso unklar waren wie anderswo. Kework, der Tänzer aber stand mit Sato

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