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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Rolle spielten. Er sah gerade vor sich hin, ohne den Blick zu rühren, und genoß die große Wonne der Schmerzlosigkeit. Sein Herz war unendlich heiter. Er zählte seine innere Barschaft. Wie leicht war sein Gepäck, wie glücklich war er. Er verlor keinen Menschen, und ihn verlor kein Mensch. All dieses Menschliche lag unermeßlich weit zurück und hatte wahrscheinlich nie bestanden. Krikor war gewiß immer Krikor gewesen, ein Mann ohne die Eigenschaften der andern. Das Volk bejammerte diejenigen, welche in solchen Augenblicken einsam sind. Der Apotheker begriff das nicht. Gab es etwas Herrlicheres als diese Einsamkeit? Ein Gefühl trockener Sauberkeit von Kopf zu Füßen, ein Gefühl, keine Verpflichtungen zu haben und in Ordnung zu sein. Kein fremder Zusatz trübte das atmende Fluten des reinen Ich. Und das Blut in diesem Fluten kam immer mehr in Bewegung. Eine prachtvolle Wärme stieg auf. Krikor merkte, wie seine Glieder wieder beweglich wurden, wie seine Gelenke die Steifheit verloren. Mit einem Ruck, der ihm gar nicht mehr weh tat, wandte er sich dem Licht zu. Kleine weiße Motten und große dunkle Nachtfalter tanzten um die Flamme. Krikor dachte: wenn das so weiter geht, werde ich gesund werden. Aber dies war ihm gar nicht wichtig. Sein Geist begann dem Faltertanz nachzusinnen. Große und eingebildete Worte stiegen wie Blasen auf, ohne daß Krikor Macht über sie hatte. »Die Zentralsonne des Polyodorus.« Gab es das, oder gab es das nicht? Gleichviel! Um die Zentralsonne des Polyodorus tanzten die Schleier-Plejaden und die Spinnweb-Enneaden, Sternhaufen in Schmetterlingsform, deren feine Materie aus dem Aschenstaub verbrannter Welten gebildet ist, wie der arabische Astronom Ibn Saadi schon nachgewiesen hat. Was alles hätte aus ihm in Europa werden können. Der Esel Schatakhian! Krikor von Yoghonoluk war stolz wie ein Gott, da er die grauen Welten um die Zentralsonne tanzen sah. So stolz war er, daß er sich selbst verlor und einschlief. – Das Erwachen aber war schrecklich. Die Koje hatte sich unbegreiflich verengt. Krikor sah fast nichts mehr. Die Nachtfalter hatten sich vertausendfacht und deckten das Licht der schlechten Kerze fast völlig ab. Der Kranke bekam keinen Atem, brach in verzweifelte Gurgelrufe aus und krümmte sich hoch, der Schmerzen nicht achtend. Äußerlich gesehn, wars ein Erstickungsanfall, doch innerlich etwas weit Grauenhafteres. Das Gefühl eines ungeheuren Nicht-Aushaltens, aber nicht etwa im zeitlich vorübergehenden Sinn, sondern ein Nicht-Aushalten, das sich in alle Ewigkeit verewigt. Wenn es eine Hölle gab, mußte dies ihre große Strafe sein. Und dieses verewigte Nicht-Aushalten hatte einen ganz bestimmten Inhalt. Wissendes Nichtwissen oder nichtwissendes Wissen wäre eine matte Bezeichnung gewesen für dieses Meer von Halbheit, von angefangenen Erkenntnissen, schnell geschmolzenen Gedanken, unbegriffenen Lehren, festgefressenen Irrtümern. Nicht-fertig-werden mit dem Kleinsten! Grausige Ohnmacht des Geistes, der an jedem Grashalm zerschellt! In diesem Meer voll ekelhafter Trümmer glaubte Krikor zu ertrinken. Er wollte sich retten, fliehen. Röchelnd kroch er vor, tastete sich hoch, klammerte sich an der Büchermauer fest. Als er in seiner Schwäche den Halt verlor und rücklings auf sein Lager fiel, riß er die obersten Schichten der Bücherwand mit sich und die verlöschende Kerze dazu. Polternd stürzten sich die Bücher auf Krikors Körper, als wollten sie ihren Herrn umarmen und festhalten. Der Kranke lag sehr lange so wie er gefallen war, zufrieden, daß er wieder atmen konnte und daß der Erstickungsanfall des Nichtwissens ihn freigegeben hatte. Wie Wellen kamen die Schmerzen jetzt wieder. Jeder Finger brannte, als habe er ihn eben aus dem Feuer gezogen. Da leisteten dem Apotheker die Bücher noch einmal einen großen Dienst, die gelesenen, die ungelesenen, die durchblätterten, die geliebten. Er steckte seine brennenden Hände zwischen die Seiten. Das Innere der Bände war so kühl wie Wasser. Und mehr als das. Eine neue eisige Ruhe strömte aus dem Geistesblut der Bücher in das seine. Er erkannte jedes einzelne noch mit seinen tauben und blinden Fingern. Eine letzte leise Anwandlung: Schade um diese Freude. Dann ließ das Brennen nach, Zug um Zug. Der letzte Schmerz sah sich noch einmal um. Die sanfte Empfindungslosigkeit stieg immer höher. Durch die Balkenritzen zuckte ein bleiernes Grau. Krikor merkte es nicht, denn etwas sehr Großes geschah mit ihm. Es begann

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