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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Militärautomobil, das die Bergengen bei Aïn el Jerab mit Todesverachtung überwunden haben mußte. Drei Offiziere kletterten aus dem Wagen und bestiegen die für sie bereitgehaltenen Pferde. Die kleine Reiterschar bog sogleich ins Dörfertal ein. Voran trabten die Offiziere, hinterher die Kavalleristen, in einigen Minuten schon mußten sie Wakef erreichen. Der mittlere Offizier war den zwei anderen stets um eine halbe Pferdelänge voraus. Während diese die üblichen Astrachanmützen trugen, hatte er eine feldgraue Kappe auf dem Kopf. Deutlich sah Awakian die roten Generalstreifen an seinen Reithosen. Die Kavalkade durchtrabte ohne Aufenthalt die Dörfer. Kaum eine Stunde brauchte sie, um Yoghonoluk zu erreichen. Auf dem Kirchplatz wurden der General und seine Begleitoffiziere von einigen Herren schon erwartet. Ohne Zweifel war es der Kaimakam von Antakje, der mit dem Müdir und anderen Beamten den General-Pascha samt seinem Gefolge in die Villa Bagradian führte. Das große Ereignis wurde sofort dem Befehlshaber gemeldet. Samuel Awakian ließ auf eigene Verantwortung den großen Alarm verkünden. Gabriel billigte diese Maßregel nachher. Er verstärkte sie sogar, indem er anordnete, daß von Stund an das Lager für alle Zeit unter Alarm stehe, gleichgültig, ob sich irgend etwas ereigne oder nicht. Awakian aber verriet er seine Überzeugung, daß die Türken noch lange nicht fertig seien, und daß sich weder heute noch morgen, wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen nichts ereignen werde. Die Tatsachen schienen ihm recht zu geben. Nach zweistündigem Aufenthalt in der Villa bestiegen die fremden Offiziere ihre Pferde und verritten in noch schärferem Trab als bei der Ankunft nach Jedidje. Sie hatten kaum einen halben Tag auf dem Kriegsschauplatz geweilt, als der kleine, verzweifelt ratternde Kraftwagen sie wieder nach Antakje entführte. Der Kaimakam begleitete die Herren in seine Hauptstadt zurück.
    An demselben Tage erhob sich Gabriel Bagradian aus dem Schmerz um seinen Sohn und ermannte sich. Der kriegerische Teil seines Wesens, den die Verschickung in ihm erweckt hatte, gewann noch einmal Macht. Er hatte übrigens schon die letzte Nacht wieder in der Nordstellung verbracht. Da aber wegen der unfreundlichen Gesinnung gegen den Dreizeltplatz die Frauen nicht ohne Schutz bleiben sollten, beurlaubte er Kristaphor und Missak vom Nachtdienst in der Stellung, damit sie für die Sicherheit der Zelte sorgten. Im übrigen hatte Mairik Antaram die Witwe Schuschik zum Pflegedienst herangezogen, wodurch noch zwei weitere schützende Arme von männlicher Kraft zur Verfügung waren.
    Gabriel gelang es von einer Stunde auf die andre, sein inneres Leben völlig auszuschalten. Der Schmerz war da, doch nur als ein dumpf entferntes Bewußtsein, wie eine wunde Körperstelle, die man durch eine Einspritzung betäubt hat. Und wieder stürzte er sich mit wilder Leidenschaft in die Arbeit. Er schien sich durch einen jähen Willensentschluß vollständig erholt zu haben, ja straffer und unbeugsamer geworden zu sein als früher. Erst in diesem Augenblick wurde es ihm ganz klar, welchen unschätzbaren Beistand er an seinem Adjutanten, oder besser, an seinem Stabschef Awakian besaß. Dieser Nimmermüde, dieses seltsam unpersönliche Ich, das in keiner Minute – obgleich den meisten Führern an Wissen und Intelligenz himmelhoch überlegen – sich eine Führerrolle angemaßt hatte, bewies eiserne Kräfte. Awakian war es mehr als Nurhan Elleon zu verdanken, daß die Feldordnung und die Mannszucht unter den Zehnerschaften bisher noch keinen ernsten Schaden genommen hatte. Manche zerrissen sich zwar den Mund über den ungelenken »Büchermacher« mit der Brille, denn überall, wo Waffen getragen werden, stellt sich sogleich eine spöttische Geringschätzung des Intellekts ein. Und dennoch, wenn Awakian in den Stellungen auftauchte, breitete sich ein beinahe behaglicher Eifer aus, jene kostbare Soldaten-Stimmung, die man Vertrauen in die Führung nennt. Das kam daher, weil der Adjutant, selbst in Abwesenheit des Kommandanten, Bagradians Überlegenheit widerstrahlte wie ein Licht. Auch Awakian konnte seit Stephans Tod keinen Schlaf mehr finden. Leiden und Schuldgefühl peinigten seine Seele. Vier Jahre hatte er im Hause Bagradian gelebt und Stephan lieb gehabt wie einen kleinen Bruder. Immer wieder mußte er die Zähne zusammenpressen, und das Blut schoß ihm in den Kopf. Wäre es nicht möglich gewesen, das Unglück zu verhindern? Warum

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