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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Juliette aber ihr Flehen bereits erfüllt fühlte, da fuhr sie aus dem Bett. Die Stimme schoß heiser in ihre Kehle zurück:
    »Stephan … hierbleiben … nicht fortlaufen … hierbleiben … Stephan …«
    Mairik Antaram war auf dem Wege zum Dreizeltplatz, um für die Nachtruhe der Kranken zu sorgen. Schuschik hatte sich ihr angeschlossen. Denn seitdem sie wußte, daß Haik lebte, war sie von einem scheuen Drang nach Gemeinschaft und Hilfeleistung beseelt. Wer aber konnte ihr da einen besseren Weg weisen als Antaram, die Helferin? Die Frauen fanden die Hanum auf dem Wege zusammengebrochen, zweihundert Schritt etwa vom Zelt entfernt. Sie kauerte im bloßen Hemd neben einem Strauch, die abgezehrten Beine ans Kinn gezogen. Auf ihrer Stirn perlte noch immer der Todesschweiß, doch ihre offenen Augen waren wieder fern und stumpf.
     
    Axtschläge hämmerten fern von den Nordhöhen des Musa Dagh zum Sattel herüber. Die Türken fällten die Steineichen des Berges. Bauten sie Geschützstände? Oder errichteten sie ein befestigtes Lager, um für den neuen Angriff einen Rückzugspunkt zu besitzen und nicht wie bisher die Höhen in der Nacht verlassen zu müssen oder einem Überfall ausgesetzt zu sein? Man entsandte Kundschafter, um den Bergrücken jenseits des Nordsattels auszuforschen, vier der bewährtesten Jungen aus der Spähergruppe. Sie kehrten nicht mehr zurück. Die weite Hochfläche, die noch vor einigen Tagen bis nach Sanderan auf der einen und zum Ras el Chansir auf der andern Seite einen freien Ausweg geboten hatte, war nun tödlich versperrt. Tiefste Bestürzung! Man schickte Sato, die Meisterspionin aus. Um die wars nicht schade. Sie kehrte auch zurück. Doch man konnte von ihr nichts Brauchbares erfahren. »Viele tausend Soldaten!« Satos Zahlenbegriffe waren höchst unzuverlässig und beschränkten sich nur auf die kleinsten und größten Bezeichnungen. Über die Tätigkeit dieser »vielen Tausend« gab sie nur unklare Nachricht: »Sie rollen Holz« oder »Sie kochen«. Die Aufgabe schien sie nicht besonders interessiert zu haben. Hingegen hatte sie für ihre Person Beute gemacht: ein Fladenbrot, eine große knusprige Scheibe. Sie hielt es fest an ihren Vogelleib gedrückt, der noch immer in dem artigen Hängerkleidchen steckte, das freilich in den wildesten Fetzen und Drapierungen ihre abstoßende Nacktheit umschlotterte. Das Brot war von Satos Rattenzähnen rings angefressen, nicht an zwei oder drei Stellen, sondern an zehn, in gar nicht menschlicher Art. Sie ließ Nurhan Elleon und die andern, die sie ausholten, alsbald stehen und verschwand unauffindbar. Niemand sollte von ihrem Schatz auch nur einen Bissen abbekommen, keiner von der Jugendhorde und am allerwenigsten Iskuhi. Mit dieser erging es Sato ähnlich wie Lehrer Oskanian mit Juliette. Sie hätte die Kütschük Hanum von einst am liebsten auch an zehn Stellen angebissen, mit wutvergifteten Zähnen. Was aber das Brot anbelangt, so konnte sich Sato doch nur an einem Viertel des Fladens mästen. Vor Nunik gab es nämlich keinen Schwindel und kein Versteck. Sie war allwissend, und schlimmer noch, sie forderte das Ihre, ohne gegenwärtig zu sein. Sato war gezwungen, das abseitige Lager ihrer Freunde aufzusuchen, ob sie wollte oder nicht. Die Allwissende aber schien sie schon zu erwarten. Sie stand im Winde, der ihr graues Zunderkleid zurückwehte, und streckte ihre Hände nach Satos Beute aus.
    Dies geschah am sechsunddreißigsten Tag des Lagers und am vierten des Septembermonats. Man hatte des Morgens an jede Familie die vorschriftsmäßige Portion Eselfleisch ausgegeben. Niemand aber wußte, ob es nicht das letztemal sei. Zugleich meldeten alle Beobachtungsstände, daß die Dörfer und die ganze Talsohle so belebt seien wie noch nie. Doch nicht nur neues Militär und neue Saptiehs bewegten sich dort, sondern eine Menge von neugierigem Gesindel habe sich wieder aus den muselmanischen Ortschaften zusammengerottet. Die Ursache dieser Neugier entpuppte sich schnell. Als Samuel Awakian, mit Gabriels Feldstecher ausgerüstet, die große Kuppe erstieg, um die Lage aufzuklären, stürzten ihm die Beobachter erregt entgegen. Etwas ganz und gar Neuartiges hat sich ereignet. Die meisten der Dorfbewohner sahen ein solches Ding zum erstenmal. Es hielt gerade auf der großen Straße von Antajke nach Suedja am Ortseingang des Fleckens Jedidje, wo es von einer kleinen Abteilung Kavallerie erwartet wurde. Awakian erkannte in seinem Fernglas ein kleines graues

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