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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ihres Gebrechens. Sie hätte doch auch Gift in den Löffel tun können, ja sie hätte das müssen , es wäre ihre Pflicht gewesen. Juliette blinzelte zwischen den geschlossenen Lidern nach der Feindin hinüber. Und wirklich! Iskuhi war aufgestanden, hatte, wie sie das immer zu tun pflegte, die Thermosflasche unter ihre linke Achsel geklemmt und schraubte den Trinkbecher los. Dann stellte sie diesen auf das Spiegeltischchen, schenkte ihn vorsichtig voll und näherte sich damit der Kranken. Also doch! Es war kein leerer Verdacht gewesen. Die Mörderin kam mit dem Gift. Juliette preßte die Augen und Lippen zusammen. Es war ihr, als wage die Mörderin während der Tat mit ihrer gläsernen Stimme noch leise zu singen oder mindestens zu summen. Wie das Surren von Moskitos klang das, die sich auf Juliettens Gesicht niederließen. Sie lauschte mit angespanntem Gehör. Iskuhi neigte sich über sie:
    »Du hast schon seit fünf Stunden nichts getrunken, Juliette. Der Tee ist noch schön warm.«
    Die Kranke schlug lauernde Augen auf. Iskuhi merkte nichts. Sie hatte den Becher wieder hingestellt und noch ein Kissen zur Stützung unter Juliettens Kopf geschoben. Dann erst hielt sie ihr den Trank an die Lippen. Juliette wartete, damit die Erzfeindin nicht Verdacht fasse, und tat so, als wollte sie wirklich trinken. Plötzlich schlug sie mit wohlberechneter Tücke Iskuhi den Becher aus der Hand. Der Tee ergoß sich über die Decken. Juliette aber hatte sich aufgesetzt und keuchte:
    »Geh! Geh du! Geh doch …«
    Viel Schlimmeres noch mußte sie erleiden, als gegen Abend Gabriel an ihr Bett kam. Jetzt galt es, eilig zu fliehn, rasch wieder ins Labyrinth zurückzutauchen. Die dunkeln Gänge waren aber auf einmal verschüttet und das Zwischenreich bestand nur aus einem lächerlich engen Raum. Gabriel nahm forschend ihre Hand wie immer. Ein klar bewußtes Herzklopfen: Wird er reden? Werde ich heute schon alles erfahren und wissen müssen? Darf ich mich nicht mehr verstecken? Sie versuchte, lang und gleichmäßig zu atmen. Doch zugleich spürte sie, daß in dieser Stunde ihr Schlafwandel nicht mehr ganz rein und gerecht war, sondern durch Willen getrübt. Auch Gabriel redete kein Wort zu ihr. Nach einer Weile zündete er die Kerzen auf dem kleinen Spiegeltisch an – Petroleum brannte man nicht mehr – und ging. Juliette atmete auf. Doch nach zwei Minuten kehrte Bagradian noch einmal kurz zurück, um Stephans große Photographie auf Juliettens Bett zu legen, jenes vorjährige Bild, das sonst immer auf seinem Schreibtisch gestanden hatte, in Paris und auch in Yoghonoluk.
    Das ist ja gar nicht Stephans Bild, sagte sich Juliette, das ist irgend etwas andres, ein Brief vielleicht und ich soll ihn lesen, wenn ich wieder gesund bin. Jetzt aber darf ich mich nicht länger dem Leben aussetzen. Das tut mir schlecht. Ich habe ja wirklich noch das Recht, zu verschwinden. Sie verkroch sich und zog mit ihren eiskalten Händen die Decke bis an den Mund. Dabei fiel der Karton zur Erde, mit dem Bilde nach oben. Die Photographie sah deutlich zu Juliette empor, deren Kopf sich aus dem Bett neigte. Das vom Spiegel verstärkte Kerzenlicht glänzte mitten auf der Bildfläche. Nun war es geschehen. Nun gab es kein Zurück mehr für sie. Doch Stephans Besuch erfolgte nicht aus der Photographie heraus. Die Wesenheit des Jungen stand hinter dem Kopfende des Bettes. Es war, als käme er atemlos von der Knabenkohorte, der Haik-Bande, vom Ordonnanzdienst oder irgend einem Spiel hergelaufen, um schnell und sehr widerwillig seine Milch hinunterzustürzen:
    »Du suchst mich, Mama?«
    »Heute noch nicht, Stephan«, flehte Juliette, »komm heute noch nicht! Ich bin zu schwach. Komm erst morgen! Laß mich noch heute krank sein! Geh lieber zu Papa …«
    »Bei Papa bin ich immer …«
    »Ich weiß ja, daß du mich nicht lieb hast, Stephan …«
    »Und du Mama …?«
    »Wenn du ein guter Junge bist, habe ich dich lieb. Du mußt wieder deinen blauen Anzug tragen. Denn sonst bist du ein Armenier …«
    Mit diesen Worten war Stephan höchst unzufrieden. Er schien durchaus keine Lust zu haben, zu seiner alten Tracht zurückzukehren. Sein Schweigen bewies, daß er trotzte. Juliette aber flehte immer stürmischer:
    »Nur heute nicht, Stephan! Komm morgen früh! Laß mich noch diese Nacht …«
    »Morgen früh …?«
    Das war kein Versprechen, sondern eine leere Frage, ungeduldig, zerstreut, auf dem Sprung, den Kopf schon wieder den Kameraden zugewandt. – Als

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