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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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minderjährige Blond und plustert es fraulich auf. Empfindsame Finger beginnen zu arbeiten. Eine weiße Kühle legt sich über Stirn, Wangen und Kinn. Man wird schon bald vierunddreißig sein und zu gewissen Stunden ist die Haut um Mund und Augen müde. Es sollte immer nur Abend sein, und die Sonne künstliches Licht. Ah, sich wieder einmal liebhaben dürfen! Nicht für andre leben! Ganz versunken sein in dem eignen gepflegten Körper, von seinen Reizen bei allem Mißtrauen selbstbeseligt, als ob es keine Männer gebe …
    Trotz ihres schweifenden Geistes aber konnte Juliette so manches Gegenwärtige sehr scharf beobachten. (Auch in ihrer tiefsten Bewußtlosigkeit noch hatte sie niemals ihre körperliche Scham und Reinlichkeit verloren.) Jetzt sah sie genau, daß Mairik Antaram sich mit der größten Sorgfalt um ihre Genesung bemühte. Sie hörte, wie die Frau des Arztes sich mit Iskuhi über die Speisen besprach, die für sie zubereitet werden sollten. Bei aller Abgestumpftheit ihrer Gedanken wunderte sie sich doch darüber, daß die suchenden Hände aus der Proviantkiste immer noch eine Tafel Schokolade, eine Handvoll Grieß, eine Dose mit Quaker-Oats hervorzogen. Diese Sachen mußten doch schon längst verbraucht sein. Sie versuchte zu zählen, wer davon mitlebte: Stephan. Ja, und um Stephans willen muß man äußerst sparsam sein. Dann Gabriel, Awakian, Iskuhi, die Tomasians, Kristaphor, Missak, Howhannes und und … Der Name fiel ihr nicht ein. Sofort verwirrte sich ihr Hirn und drehte sich sausend im Kopf. Auch zählen konnte sie nicht und mit dem Zeitbegriff war es sehr schlecht bestellt. Was vorher und nachher hieß, was kurz vorbei und längst schon geschehen war, das geriet durcheinander.
    Wenn in diesen Tagen der Wiederkehr Juliette das meiste nur undeutlich wahrnahm, wenn ihr auch unendlich viel entfallen war, so enthüllten sich ihr Verborgenheiten mit doppelter Schärfe. Sie lag allein. Mairik Antaram hatte sie für zwei Stunden verlassen müssen, um in den Lazarettschuppen zu gehen. Da trat Iskuhi ins Zelt und setzte sich dem Bett gegenüber auf ihren gewohnten Platz, den kranken Arm, wie es ihre Art war, mit einem Umhangtuch verhüllend. Juliette wußte durch ihre dünngewordenen Augenlider hindurch, daß Iskuhi an ihrem Schlaf nicht zweifelte und sich deshalb in Mienen und Gedanken gehen ließ. Sie wußte aber noch mehr. Gabriel hatte eben das Mädchen verlassen und darum war es in das Zelt gekommen, das wußte sie. Und Iskuhi würde solange hier bleiben, bis Gabriel wieder zurückkehrte. Auch erkannte Juliette, daß Iskuhis Gesicht, obgleich es nur ein schwankender Schein war, ihr bittere Vorwürfe machte. Bittere Vorwürfe, weil sie nicht die gute Gelegenheit benützt hatte, zu sterben. Und dieses gehässige, dieses häßliche hübsche Ding hatte eigentlich recht. Denn wie lange noch würde Juliette der Aufenthalt im verantwortungslosen Zwischenreich erlaubt bleiben? Wie lange noch würde sie schweigen und schlafen dürfen, wenn Gabriel in der Nähe war? Juliette fühlte die Vorwürfe, den Tadel, die Feindschaft, die von Iskuhi ausgingen wie scharfe Strahlen auf ihrem Gesicht. Hier saß nicht nur irgend eine Feindin und starrte sie mit stillen Todesflüchen an. Hier saß die Feindin, die große Fremdheit selbst, das Unüberwindlich-Armenische, dem sie zum Opfer gefallen war. Und Juliette hatte immer geglaubt, sie sei das Harte, und das Asiatische das Weiche. Das Harte aber war vom Weichen aufgelöst worden. Während sie zu schlafen schien, überfielen sie schneidende Erkenntnisse. Wie war das? Nicht sie, Juliette, hatte den ersten Anspruch auf Gabriel. Iskuhi besaß den älteren Anspruch und niemand konnte es ihr verwehren, wenn sie ihr Gut zurücknahm. Ein großes Mitleid mit sich selbst erschütterte Juliette. Hatte sie nicht für diese Asiatin alles getan, um ihre Liebe zu gewinnen, sie, die tausendmal höher stand? Hatte sie dieses ahnungslose Frauenzimmer nicht angezogen, sie mit ihren eigenen Dingen aufs beste geschmückt, sie gelehrt, wie man sein Gesicht und die Hände pflegt? (Ah, und wenn sie nackt ist, hat die Person trotz ihrer reizenden kleinen Brüste eine graubraune Haut, da hilft ihr kein Gott. Und der rechte Arm ist verkrüppelt. Kann das einem so heikeln Mann wie Gabriel gefallen?) Juliette staunte darüber, daß diese Urgegnerin ihr, seitdem sie sich überhaupt des Lebens entsinnen konnte, die Tasse oder den Löffel mit der Nahrung zum Munde geführt hatte, fürsorglich, trotz

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