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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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hatte er an jenem furchtbaren Tag nicht gespürt, was in dem Jungen vorging? Eine Gewissenlosigkeit, die er sich nie würde verzeihen können. Nie?? Ah, das blieb ja der einzige Trost, daß dieses Nie nur eine Sache von wenigen Tagen war und daß dadurch alles alles leichter wog. Samuel Awakian ließ sich nichts anmerken und erwähnte im Verkehr mit Gabriel den Namen Stephans nicht. Doch ebensowenig kam dieser Name über des Vaters Lippen. Dennoch oder gerade deswegen spannte Awakian seine letzte Energie an, um Gabriel zu dienen. Er hatte unter anderem auch eine neue Evidenzliste der Zehnerschaften angelegt. Bagradian konnte ihr entnehmen, daß die Zahl der Kämpfer auf etwa siebenhundert gesunken war. Die große Lücke, die der Tod gerissen hatte, bedeutete aber keine wesentliche Verminderung der Kampfkraft. Mit den freigewordenen Gewehren konnten die besten Männer der Reserve ausgerüstet werden. Und dann! Die Verteidigungsfront hatte sich ja dank dem Waldbrand auf einige wenige Abschnitte verengt. Die Steineichenschlucht war noch immer ein einziger Ofen voll glühender Kohlen. Diese Heizung spürte man in der Stadtmulde nach wie vor, wo sie zumeist gegen Abend die Gemüter aufstachelte. Gleichviel, die schwächste Stelle der Linie war nun vor Angriffen geschützt, für immer. Und nicht nur in diesem größten Einschnitt des Damlajik, sondern auch weit umher auf den Hängen, Buckeln, Vorhügeln gloste es unter den zusammengebrochenen Strünken weiter. Hier hatte eine gnädige Hand alles zu Gunsten der Armenier gelenkt. Bagradian löste die Besatzungen der überflüssig gewordenen Abschnitte endgültig auf und schuf dafür eine starke Postenkette, die den Bergrand vor Überraschungen und türkischen Kundschaftern zu sichern hatte. Den vorhandenen Möglichkeiten und Anzeichen nach zu schließen, beruhte die Absicht der Türken auf einem von zehnfacher Übermacht geführten Generalstoß im Norden, der, von Artillerie wahrscheinlich unterstützt, die verbrauchten Armeniersöhne aufreiben sollte. Unablässig schallten die Axthiebe. Trotz dieser eindeutigen Zurüstungen aber war Bagradian vorsichtig genug, eine Spähergruppe auch in den südlichen Raum vorzuschicken. Diese mutigen Burschen wagten sich am Abend bis nach Suedja hinein. Sie meldeten, daß nur ganz wenig Militär und fast gar keine Saptiehs in der Orontes-Ebene lägen. Alle Truppen seien im Dörfertal zusammengezogen. Die Felsbastion und ein neuer Steinschlag schien den Türken trotz ihres Generals noch immer einen heillosen Respekt einzuflößen. Dennoch beschloß Gabriel, die Südbastion morgen zu visitieren.
    Am Abend saß er auf seinem Schlafplatz und starrte auf die Sattellehne hinüber, auf die Baumgruppen des Höhenrandes, zwischen denen Stephan verschwunden war, ohne daß er es hatte verhindern können. Noch immer rückten ihm seine Nachbarn nicht näher. Wenn er kam, unterbrachen sie ihr Gespräch, standen auf und grüßten ihn als Führer. Das war alles. Auch von ihnen sprach keiner ein Wort wegen Stephans zu ihm. Vielleicht wagten sie es nicht. Alle sahen ihn so merkwürdig an, traurig und forschend. Tschausch Nurhan allein war immer hinter ihm hergewesen, als habe er so manches auf dem Herzen, wolle aber erst den rechten Augenblick abwarten. Nun schlief er schon seinen wohlverdienten Schlaf, denn keiner der Jüngsten reichte an diesen alten Kerl und seine Unermüdlichkeit heran. Gabriel Bagradian hatte nun schon vierundzwanzig Stunden weder Iskuhi noch Juliette gesehen. Ihm war wohler so. Alle Bindungen zerrannen. Er durfte sich nicht mehr in die Schwäche zurückwerfen lassen. Er mußte kalt und frei sein für den letzten Kampf. Ja, trotz seiner unermeßlichen Traurigkeit fühlte er sich kalt und frei für diesen letzten Kampf. Auf dieser Bergeshöhe waren die Septemberabende schon recht kühl. Auch hatte sich der umspringende Wind noch nicht gelegt, wenn er hie und da auch pausierte. Wo waren die schönen Mondnächte hin, da der gräßliche vierzigfache Mord an Stephan noch nicht in seinem Bewußtsein lebte? Gabriel starrte noch immer auf die schwarze Wand gegenüber. Manchmal winselte der Wind in den Bäumen oben. Wie feige waren die Feinde! In solcher Nacht hätten sie auf der Lehne dort einen Graben anlegen können, ohne gehindert zu werden. Ach was, solche Künste brauchten sie nicht, wenn sie Kanonen hatten. Dann war alles im Handumdrehen zu Ende. Doch, vielleicht sollte man das gar nicht abwarten, vielleicht sollte man zuvorkommen,

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