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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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schlichte Leute sprudelnd los, die nicht zur Südbastion gehörten, ihn aber dort besuchten. »Die Idee«, wie er es nannte, nahm in seinem Hirn immer schärfere Gestalt an. Diese Idee aber war durchaus nicht Eigenwuchs, sondern entstammte einer lichtvollen Darlegung Meister Krikors, der vor vielen Jahren einmal während eines philosophischen Spaziergangs über den Freitod gehandelt hatte, »die Pflicht zu leben« und »das Recht zu sterben« mit Hilfe unbekannter aber wohllautender Autoren gegeneinander abwägend.
    In den Stellungen der Südbastion fanden die Visitierenden keine grobe Fahrlässigkeit. Der Dienst war nach den Gesetzen der Zehnerschaftsordnung eingeteilt, die Posten waren besetzt, die vorgeschobenen Feldwachen lagen am Rande der großen Steinhalde. Auch der Zustand der Gewehre ließ nichts zu wünschen übrig. Und doch hatte die Haltung dieser Mannschaft, trotz aller oberflächlichen Ordnung, etwas Unbestimmtes, Träges, Verdächtiges, das Tschausch Nurhans Unwillen herausforderte. Die Besatzung bestand aus elf Zehnerschaften, etwa fünf- undachtzig Männer zählten zu den Deserteuren. Nicht alle unter diesen waren zweifelhafte Gesellen, im Gegenteil, die Mehrzahl setzte sich aus recht harmlosen Ausreißern zusammen, die vor drohender Mißhandlung, Bastonade oder Straßenarbeit durchgegangen waren. Was nun auch immer schuld sein mochte, Elend, Verlotterung, schlechtes Beispiel, alle hatten Sarkis Kilikians störrische Apathie angenommen, als wäre sie die rechte schicke Lebensart, die Männer ihresgleichen kleidet. Das war ein schlappes Hin- und Herschlurfen, ein höhnisches Herumlungern, ein freches Auf-dem-Rücken-Liegen und Sich-Rekeln, ein herausforderndes Grölen und Gepfeife, das für die künftige Schlacht nichts Gutes hoffen ließ. Nicht eine Truppe von Kämpfern glaubte man vor sich zu haben, nicht einmal eine echte Verbrecherbande, sondern ein Rudel verkommener und aufsässiger Landstreicher, die sich in einer Einöde zuammengerottet hatten. Gabriel Bagradian aber schien der Sache keine übermäßige Bedeutung beizumessen. Die meisten dieser Burschen hatten sich im Kampf bewährt. Alles andre war Nebensache. Man mußte mit ihnen jedenfalls vorsichtiger umgehen als mit der Elite.
    Der Feuerfrevel aber war doch zu bunt. Die Südbastion besaß im Westen, wo der Damlajik die Biegung zum Meer beschrieb, drei hochaufgeworfene Deckungen zur Flankensicherung. Diese Schanzen beherrschten die auslaufende Steilseite des Berges, die in waldbedeckten Terrassen gegen Habaste herabfiel, und machten jede Umgehung unmöglich. Und hier, fünfzig Schritt unterhalb dieser ebenfalls mauerbewehrten Deckungen, brannte auf dem offenen Vorfeld ein großes vergnügliches Feuer, eine freundliche Einladung an die Türken geradezu. Auf das Brennen offener und von der Führung nicht eigens erlaubter Feuer stand das strengste Verbot. Doch nicht genug damit. Um dieses Feuer saß nicht nur ein Lumpenpack der minderwertigsten Deserteure, sondern zwei Frauenzimmer dazu, die aus der Stadtmulde in diese Welt übergegangen waren. Und diese Weiber drehten das schönste Ziegenfleisch an langen Stöcken in der Flamme. Nurhan und die andern stürzten wie Besessene auf die Gesellschaft los. Bagradian kam langsam hinterdrein. Der Tschausch packte einen der Deserteure an seinem schmutzigen Hemd und riß ihn hoch. Es war ein langhaariger Mensch mit einem bräunlichen Gesicht und kleinen raschen Augen, die auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit Armenieraugen hatten. Nurhans langer grauer Feldwebel-Schnurrbart zitterte vor Wut:
    »Du Läuseturm! Wo habt ihr diese Ziegen her?«
    Der Langhaarige suchte sich zu befreien. Er tat so, als kenne er den Tschausch gar nicht:
    »Was geht dich das an? Wer bist du überhaupt?«
    »Da hast du, wer ich bin!«
    Ein Faustschlag schleuderte den Kerl zu Boden, so daß er fast in das Feuer getaumelt wäre. Kriecherisch gekränkt raffte er sich wieder auf:
    »Warum schlägst du mich? Was hab ich dir getan? Die Ziegen haben wir uns in der Nacht aus Habaste geholt …»
    »Aus Habaste, du Senkgrube!? Aus dem Lager habt ihr sie geholt, ihr feigen Verbrecher! Die Hungernden habt ihr um das Letzte bestohlen … Jetzt haben wir die Erklärung.«
    Der Blick des Langhaarigen suchte Gabriel Bagradian, der sich abseits hielt und seinem Unterkommandanten die Abwickelung der unerquicklichen Szene überließ:
    »Effendi«, klagte der saubere Häuptling, »sind wir keine Menschen, hungern wir weniger als die andern?

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