Die vierzig Tage des Musa Dagh
Glatze und jammernd entrang es sich ihm:
»Wären wir in die Verschickung gegangen … lebend oder tot … wir hätten es besser …«
In diesem Augenblick zog Ter Haigasun einen zerknitterten Zettel aus seinem Kuttenärmel. Die gute Gelegenheit war da, nicht nur Kebussjans Stoßseufzer zu beantworten, sondern auch den Damlajik gegen Aram zu verteidigen. Er verlas den Schicksalszettel ziemlich leise und fast ohne Ausdruck:
»Harutiun Nokhudian, Pastor von Bitias, an den Wartabed der Küste bei Suedja, Ter Haigasun von Yoghonoluk. Frieden vorerst und langes Leben für Dich, geliebter Bruder in Christo, Ter Haigasun, und für alle meine geliebten Landsleute oben auf dem Musa Dagh, oder wo Ihr sonst sein möget, hoffentlich aber noch auf dem Berge. Wenn Gott es will, so wird Dich dieser Brief erreichen; ich händige ihn einem gütigen türkischen Offizier ein. Unser Gottvertrauen ist auf eine schreckliche Probe gestellt worden, und der Herr würde uns sicher verzeihen, wenn wir es verloren hätten. Während ich dies schreibe, liegt die sterbliche Hülle meiner engelsguten heiligmäßigen armen Gefährtin unbegraben neben mir. Sie hat, wie Du Dich erinnern wirst, immer für mein Leben gezittert und wegen meiner schwachen Gesundheit nie geduldet, daß ich mich anstrengte, daß ich barhaupt ins Freie ging oder mich allzusehr an belebenden Getränken erfreute, welche sündige Schwäche mir einwohnt. Jetzt hat sich alles verkehrt. Ihr flehentliches Gebet wurde erhört, sie ist vor mir dahingegangen, verhungert, und hat mich verlassen, die Böse! Ihre letzte Tat war es, daß sie mir in der Morgenkälte der Steppe ihr eigenes Halstuch aufzwang. Gott straft mich wie Hiob. Ich, der Schwache, Kranke, Hustende, Elende, habe Kräfte, die nicht ausgehen wollen und die ich tausendmal verfluche. Meine irdische Beschützerin aber ist gestorben, und ich überlebe alle. Von meiner Gemeinde wurden die jungen Männer in Antakje abgesondert, wir wissen nichts von ihnen, die andern sind tot bis auf siebenundzwanzig und ich fürchte, ich werde der Letzte sein müssen, ich, der ich nicht kräftig und würdig genug bin. Wir bekommen jetzt täglich etwas Brot und Bulgur, weil Kommissionen dagewesen sind, dies aber verlängert die Qual nur. Vielleicht kommen an diesem Tag noch Inschaat Taburi, um die vielen vielen Leichen zu begraben. Sie werden mir dann auch meine Gefährtin nehmen und ich muß noch sehr dankbar sein dafür. Das Blatt ist nun vollgeschrieben. Leb wohl, Ter Haigasun, wann werden wir wiedervereint sein …«
Der Priester hatte auch die letzten Zeilen noch tonlos wie eine sachliche Mitteilung gelesen. Dennoch hängte sich jede Silbe wie ein Uhrgewicht an die bärtigen Köpfe der Männer und zog sie nieder. Bedros Hekim erhob seine Stimme, die schartig und rostig wie ein altes Messer war:
»Ich glaube, daß sich Thomas Kebussjan daraufhin nicht mehr nach den Segnungen der Deportation sehnen wird. Wir haben nun achtunddreißig Tage hier oben gelebt, unser eigenes Leben, es war schwer, aber ganz anständig, mein ich. Schade, daß keiner von uns später die Gelegenheit haben wird, darauf stolz zu sein. Im übrigen stelle ich den Antrag, daß Ter Haigasun den Brief Nokhudians öffentlich auf dem Altarplatz verliest.«
Der Antrag fand lebhafte Zustimmung. Denn in der Stadtmulde ging der Seufzer Kebussjans »Wären wir nur in die Verschickung gegangen« schon recht lange um. Gabriel war die ganze Zeit über unbeteiligt und in seine eigenen Gedanken versunken dagesessen. Er kannte ja den Brief des kleinen Pastors schon. Sein Sinn beschäftigte sich mit der auffahrenden Feindseligkeit, die Aram Tomasian während der Beratung ihm gegenüber zeigte. Gabriel spürte genau, daß Iskuhi der Grund war. Um so weniger aber wollte er auf den verletzenden Ton Arams eingehen. Es war eine sehr große Sache, die er vorzuschlagen hatte. Er bemühte sich deshalb in seinen Worten um höchste Milde und Versöhnlichkeit:
»Es fällt mir nicht ein, die Pläne und Taten Pastor Arams zu verspotten. Von allem Anfang an hab ich den Plan der Fischerei für gut gehalten. Wenn der Erfolg ausblieb, so ist nicht der gute Gedanke daran schuld, sondern die schlechten Gerätschaften. Was aber den Plan eines neuen Lagers anbetrifft, so habe ich pflichtgemäß zeigen müssen, daß er nicht nur unausführbar ist, sondern noch dazu das Ende beschleunigt und verschärft. Dagegen hat Aram Tomasian mit vollem Recht die Frage an mich gestellt, was ich gegen den Hunger
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