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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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fordern. Es tritt also in diesem Augenblick derselbe Zustand ein, wie er in den Dörfern vor der Wahl des Führerrats geherrscht hat. Die Muchtars übernehmen wieder die alleinige Sorge für ihre Gemeinden und ich, als Wartabed des Bezirkes, die Leitung der Gesamtheit. In dieser Eigenschaft fordere ich Gabriel Bagradian auf, den Befehl über die Verteidigung weiter zu führen wie bisher. Er ist in seiner Befehlgebung unabhängig. Ob er sich für einen Überfall entscheidet oder für eine andre Abwehrmaßnahme, ist seine Sache, und niemand hat ihm dreinzureden. In meiner Eigenschaft als Priester ordne ich ferner einen feierlichen Bittgottesdienst an, dessen Stunde ich noch bekannt geben werde. Ich habe nicht das Recht, irgend eine Möglichkeit der Rettung abzuweisen. Infolgedessen wird Pastor Aram Tomasian nach dem Gottesdienst die Gelegenheit haben, seinen Antrag vor der Volksversammlung zu wiederholen und zu begründen. Die Mehrheit des Volkes kann dann selbst entscheiden, ob es den Berg verlassen will oder der Tapferkeit unserer Kämpfer und den Plänen ihres Führers weiter vertraut. Nach diesem Entscheid aber wird das Volk beschließen, daß jeder, der sich gegen den allgemeinen Machtspruch in Taten oder Worten auflehnt, auf der Stelle erschossen werden soll. – So! Hat jemand noch etwas vorzubringen?«
    »Zehnmal einverstanden! Wenigstens hört endlich das öde Geschwätz auf«, knurrte Bedros Hekim, der schon längst bei Krikors erbenloser Bücherburg stand und die bunten Tafeln in einem Band des alten Brockhaus bestaunte. Doch auch die Mehrzahl der anderen Führer war nicht unerfreut. So manchem kam die Diktaturerklärung Ter Haigasuns recht gelegen. In behaglicher Zeit ist es sehr erhebend, eine Führerrolle zu spielen, einen Schritt vor der Vernichtung aber taucht man lieber in der Masse unter. Auch die Muchtars waren nun wieder einfache Dorfschulzen und nichts mehr. Der im Park der Villa Bagradian von der großen Versammlung eingesetzte Führerrat löste sich ohne Protest sang- und klanglos auf. Ter Haigasun hatte einen weisen Schachzug getan und brachte zugleich ein furchtbares Opfer. Die Volksführung war von allen unzuverlässigen Seelen und Störenfrieden gesäubert. Er selbst aber mußte jetzt in diesem letzten Augenblick sein Volk durch den Tod Gott entgegenführen, er allein. Die Männer verließen schweigend die Regierungsbaracke.
    Pastor Aram aber haßte Ter Haigasun, haßte Gabriel Bagradian und mehr als beide sich selbst. Kurz verabschiedete er sich von seinem Vater, ohne auf dessen verzweifelte Fragen Rede zu stehn. Die Verschickungstage von Zeitun stiegen zürnend auf. Hatte er nicht schon damals dem Evangelium Schande gemacht und seine Herde, seine Kinderherde am dritten Tage verlassen? Und war es kein pflichtvergessenes Auskneifen gewesen, als er seinen Amtsbruder Harutiun Nokhudian ziehen ließ, diesen reinen Blutzeugen des Herrn, den alten schwachen Mann, der nicht wankte? Bitter erkannte der Pastor, daß es immer die gleiche Sünde ist, die den Menschen in die Falle lockt. Um wieviel gemeiner, schmählicher, verwirrter, selbstbesessener aber war er bei der heutigen Prüfung durchgefallen! Aram Tomasian irrte zuerst eine Zeitlang auf dem Damlajik umher, dann kletterte er den Steig zur Küste hinab, um sich wieder mit den unlösbaren Problemen des Fischfangs zu befassen. Er empfand aber durchaus keine Zerknirschung, sondern nahm mit Schrecken wahr, daß es von Stunde zu Stunde in ihm verstockter wurde. Am besten, den Volksentscheid gar nicht abwarten und, ohne Anträge zu stellen, sich mit Howsannah und dem Kind einfach auf den Weg machen! Kework als Diener reicht vollkommen aus. Den Vater freilich muß man zurücklassen, er wird nicht fliehen wollen. Die Schwimmer sind über Arsus ganz leicht nach Alexandrette gekommen. Warum sollte eine kleine Familie in drei Nachtmärschen, der Küste entlang, nicht auch Alexandrette erreichen können? Herr Hoffmann, der den Schwimmern Obdach geboten hat, wird als Protestant einen protestantischen Pfarrer nicht verjagen. Mit seiner Priesterschaft war es nach solchem schmählichen Versagen natürlich zu Ende. Tomasian tastete seine Brieftasche ab. Er besaß fünfzig Pfund, viel Geld. Dann, sein Gesicht vor moralischem Widerwillen verzerrend, starrte er in das Brandungswasser zu seinen Füßen. Und Iskuhi?
     
    Es war aber dafür gesorgt, daß weder Gabriels noch Arams Plan zur Ausführung kam, noch auch der Volksentscheid stattfand. Der Damm bricht immer

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