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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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abpressen, obgleich er Gabriel seit Stephans Tod nicht gesehen hatte. Es mußte allgemein auffallen, daß er ihn, auch während des unmittelbaren Gespräches, anzusehen vermied. Die Sitzung begann jetzt mit Tomasians Bericht über die verzweifelte Lage:
    »Das Beschlossene ist geschehen. Wir haben nun alles Fleisch ausgegeben. Nur für die Zehnerschaften wurde der letzte Teil heimlich zurückgehalten. Es reicht aber höchstens für zwei Tage noch. Die Frauen und Kinder haben ihren ersten vollkommenen Fasttag, wenn man das Essen der vorhergehenden Tage nicht auch als Fasten bezeichnen will.«
    Muchtar Thomas Kebussjan hob die Hand, nachdem er sich mit dem ungleichen Blick seiner Augen versichert hatte, daß alle Parteigänger vom letzten Mal auf dem Posten waren:
    »Ich sehe nicht ein, warum man den Leuten aus den Zehnerschaften zu essen gibt und die Frauen und Kinder fasten läßt. Junge kräftige Männer vertragen eher einen Stoß.«
    Hier griff Gabriel Bagradian sofort in die Verhandlung ein:
    »Das ist doch sehr einfach einzusehn, Muchtar Kebussjan. Die Kämpfer müssen jetzt bei Kräften sein, mehr als je.«
    Um den Befehlshaber der Verteidigung zu unterstützen, lenkte Ter Haigasun von der Ernährungsfrage ab:
    »Vielleicht sagt uns Gabriel Bagradian seine Ansicht über die wahren Kräfte der Zehnerschaften.«
    Gabriel machte eine Handbewegung auf Tschausch Nurhan hin:
    »Die Verfassung der Zehnerschaften ist nicht viel schlechter als vor dem letzten Kampf. Erstaunlich genug, doch es ist so, und Tschausch Nurhan wird es bestätigen. Die Verteidigungswerke sind aber viel stärker und besser als damals. Die Angriffsmöglichkeiten der Türken haben sich sehr verringert. Im großen und ganzen bleibt ihnen nur der Norden übrig, und alle Vorbereitungen beweisen das auch. Die Bastion werden sie trotz ihres Generals nicht anzugreifen wagen, das ist so gut wie sicher. Mit der Besatzung dort kann man, wie wir alle wissen, keine besondere Ehre aufstecken. Ich beabsichtige aber, Tschausch Nurhan für ein oder zwei Tage hinzuschicken, damit er Ordnung mache. Der Angriff der Türken im Norden wird furchtbarer sein als alle früheren zusammengenommen. Es handelt sich darum, ob und wieviel Artillerie sie haben. Wir konnten es bisher noch nicht erkunden. Davon hängt alles ab. Das heißt, wenn wir nicht ein neues Mittel ergreifen … doch davon werde ich später sprechen …«
    Ter Haigasun, der nach seiner Art mit gesenktem Haupt und in fröstelnder Haltung zugehört hatte, konnte die große Frage nicht unterdrücken:
    »Gut, aber was dann?«
    Gabriel Bagradian, von einem brennenden Durst nach dem Ende und der Befreiung erfüllt, erhob seine Stimme viel zu hallend für den dumpfen Raum:
    »Bedenken wir doch! In dieser Stunde stehen Millionen Männer der ganzen Welt im Schützengraben wie wir. Sie erwarten den Kampf oder sie kämpfen, bluten, sterben, wie wir. Dies ist der einzige Gedanke, der mich beruhigt und tröstet. Wenn ich daran denke, dann bin ich nicht schlechter, nicht ehrloser als einer von diesen Millionen. Und so wie ich, wir alle! Wenn wir kämpfen, sind wir nicht mehr Kot, der irgendwo am Euphrat verfault. Wenn wir kämpfen, haben wir Ehre und Würde. Deshalb dürfen wir nichts andres vor uns sehn und nichts andres wollen als den Kampf.«
    Diese heroische Auffassung der Sachlage schienen aber die wenigsten zu teilen. Das »Was dann?« des Priesters pflanzte sich in der Runde fort. Gabriel sah sich erstaunt um:
    »Was dann? Ich habe geglaubt, wir sind uns alle einig darüber. Was dann? Hoffentlich nichts mehr!«
    Hier kam für Asajan eine gute Gelegenheit, sich seinem Freunde gefällig zu erweisen. Der schwarze Lehrer hatte ihn beschworen, nichts zu versäumen, was Mißtrauen erwecken konnte, das heißt, wo es nur anging, auf den »Verräter« Gonzague Maris und auf den geheimnisvollen Besuch des alten Agha hinzuweisen. Der Kirchensänger räusperte sich geziert:
    »Der Heldentod, Effendi, ist nicht ganz uneigennützig. Ich wünsche mir nichts anderes. Auch will ich mir kein Urteil über Ihre geschätzte Gattin herausnehmen. Vielleicht haben Sie ihretwegen irgendwelche Verabredungen mit dem türkischen Pascha getroffen, der Sie vor einigen Tagen besucht hat. Man kann das nicht wissen. Was aber geschieht aus unseren Frauen, Schwestern, Töchtern, wenn ich fragen darf?«
    Es gehörte zum Charakter Gabriels, daß er gegen vergiftete Pfeile der Bosheit und Gemeinheit durchaus nicht mit Schlagfertigkeit gewappnet

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