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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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war, hauptsächlich deshalb, weil es immer eine Weile dauerte, bis sie ihm ganz zu Bewußtsein kamen. Auch jetzt starrte er Asajan verständnislos an. Ter Haigasun aber, der Bagradian schon von Grund auf kannte, sprang ihm energisch bei:
    »Sänger, hüte deinen Mund, ich warne dich! Willst du aber wissen, warum der Agha Rifaat Bereket aus Antakje den Effendi besucht hat, so werde ich dirs sagen. Gabriel Bagradian könnte längst im Hause des Agha in sicherem Frieden sein Brot und seinen Pilaw essen, denn der Türke hat ihm den Antrag gemacht und die gute Möglichkeit gegeben, sich zu retten. Unser Gefährte Bagradian aber hat es vorgezogen, uns die Treue zu halten und seine große Pflicht zu erfüllen bis zum letzten Augenblick.«
    Nach dieser Erklärung, die ein notwendiger Vertrauensbruch an Gabriel war, entstand eine längere, einigermaßen betroffene Stille. Außer Ter Haigasun hatte nur noch Bedros Hekim die Wahrheit gewußt. Man war übereingekommen, den Besuch des Agha dem Volke als einen reinen Freundschaftsakt darzustellen, der Bagradian galt. Die Stille dauerte an. Doch es wäre falsch zu glauben, daß sie die Hochachtung aller Versammelten für Gabriels vornehme Handlungsweise zum Ausdruck brachte. Bei den Muchtars zum Beispiel traf dies gleich nicht zu. Jeder von diesen geeichten Volksmännern legte sich im Geiste die Frage vor, wie er sich einer ähnlichen Versuchung gegenüber verhalten hätte. Und jeder von ihnen kam innerlich zu dem übereinstimmenden Schluß, daß sich dieser aus Europa zugereiste Enkel des alten geriebenen Awetis als ein schandbarer Narr und Einfaltspinsel benommen hatte. Aram Tomasian brach als erster die betroffene Stille:
    »Gabriel Bagradian«, begann er, sah aber den Gegner nicht an, »empfindet immer als Militarist, als Offizier. Auch mir kann schließlich niemand den Vorwurf machen, daß ich im Kampf ausgekniffen bin. Doch ich empfinde nicht als Militarist. Ich empfinde anders. Wir alle empfinden anders als Bagradian, das läßt sich nicht leugnen. Hat es denn einen Zweck, wenn wir uns in einem neuen ungleichen Kampf verbluten, um allerbestenfalls drei Tage später ungeschoren zu verhungern? Und das wäre schon ein unausdenklicher Glücksfall. Was ist damit getan?«
    Bis zu diesem Augenblick war Arams »Ausweg« ein ziemlich unbestimmtes Gedankenspiel gewesen, ohne rechte Wirklichkeit. Der erbitterte Drang, Bagradian zu widersprechen, gab dem vagen Plan auf einmal feste Formen und den Anschein gewissenhafter Wohlüberlegtheit:
    »Ter Haigasun und ihr Männer alle müßt mir zugeben, daß wir hier oben auf dem Damlajik nicht weiter kommen und daß es besser wäre, wir bringen zuerst unsre Frauen und dann uns selbst um, als daß wir die Türken oder den Hungertod abwarten. Ich schlage deshalb vor, den Berg zu verlassen, morgen, übermorgen, so schnell wie möglich. Auf welche Weise dies am besten zu machen ist, das muß genau durchberaten werden. Ich stelle mir vor, wir wählen den Weg nach Norden, natürlich nicht auf den Höhen, die ja von den Türken abgesperrt sind, sondern der Küste entlang. Zum vorläufigen Ziel könnten wir die Hänge des Ras el Chansir nehmen. Die kleine Bucht dort ist gut geschützt und ganz gewiß fischreicher als die Küste hier. Wir brauchen kein Floß und die Netze werden genügen, darauf möchte ich euch mein Wort geben …«
    Dies klang gar nicht so phantastisch, wie es vielleicht war. Vor allem brachte Arams Rede eine Aktion in Vorschlag und damit die ungenaue, aber beschwingende Aussicht, die Todesverlarvung des Damlajik durchbrechen zu können. Die bisher regungslosen Köpfe begannen, wie von einem leichten Wind bewegt, zu schwanken, bekamen Farbe. Nur Gabriel Bagradian blieb derselbe, als er jetzt, das Wort fordernd, seine Hand erhob.
    »Es ist ein sehr schöner Traum, den sich Pastor Aram da ausgedacht hat. Ich bekenne, daß auch ich ähnliche Träume schon gehabt habe. Wir müssen solche Vorstellungen aber genau auf ihre Erfüllbarkeit prüfen. Ich will also – was ich als verantwortlicher Befehlshaber nicht darf – den allergünstigsten Fall annehmen, daß es uns nämlich in der Nacht gelingt, an den Türken vorbeizukommen und das Ras el Chansir zu erreichen. Ich will in meinem Leichtsinn noch viel weiter gehen und setze den Fall, daß die Saptiehs und das Militär den langen zerrissenen Zug von vier- bis fünftausend Menschen nicht bemerken, der sich, wir haben das zweite Mondviertel, an der hellen Steilküste entlang bewegt. Gut!

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