Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
Wir kommen ungehindert bis zu den Felshängen des Kaps. Dort müssen wir zuerst einen großen Vorsprung umgehn, weil sich die kleine Bucht erst jenseits des Kaps in den Felsen einschneidet … Unterbrechen Sie mich nicht, Pastor, Sie können sich auf meine Worte verlassen, ich habe die Karte genau im Kopf … Ob diese Buchten nur nackte Felsrisse sind oder ob sie irgend eine bewohnbare Fläche bieten, weiß ich nicht. Aber ich will noch einmal zu Tomasians Gunsten die glücklichste Möglichkeit annehmen. Wir finden also einen ausreichenden Lagerplatz und die Türken sind derart mit Blindheit geschlagen, daß sie sechs, ja meinetwegen acht Tage brauchen, um ihn aufzustöbern. Jetzt aber muß ich mir die allerwichtigste Frage stellen: Was ist damit gewonnen? Antwort! Wir haben das Bekannte mit dem Unbekannten vertauscht. Wir haben die verbrauchten, verhungerten Körper der Frauen und Kinder einem langen Klettermarsch über weglose Klippen und Felsen ausgesetzt, den sie wahrscheinlich gar nicht überwinden können. Anstatt unseres gut eingelebten Lagers müssen wir eine neue Siedlung schaffen, ohne Kraft und ohne Mittel. Das sieht wohl jeder ein! Da uns die Tragtiere fehlen, so bleiben natürlich auch alle Betten und Decken, alles Kochgerät und Handwerkszeug auf dem Damlajik zurück. Ohne unsre Sachen aber können wir kein neues Leben beginnen, selbst wenn wir in ein Paradies kämen, wo das Brot auf den Bäumen wächst, das wird auch der Pastor nicht leugnen. Wir verlassen eine erprobte und starke Festung, vor der die Türken den größten Respekt haben. Wir tauschen einen beherrschenden Platz auf der Höhe mit einem hilflosen Platz in der Tiefe, der keine Deckungen bietet. Binnen einer halben Stunde werden wir abgefangen sein, Tomasian. Einen großen Vorteil haben wir freilich. Die letzte Flucht ins Meer dürfte dort unten kürzer sein, als der Sprung von der Schüsselterrasse hier oben. Jedenfalls, so fürcht ich, werden die Fische mehr an uns zu fressen bekommen, als wir an ihnen.«
    Aram Tomasian hatte diese klaren Darlegungen Gabriels mit gereizten Zwischenrufen begleitet. Die Stimme der Besonnenheit, die ihn mahnte, sich in dieser Entscheidungsstunde nicht von dumpfen Gefühlen treiben zu lassen, verlor immer mehr an Macht. Während er Bagradian mit kaum beherrschter Heftigkeit angriff, sah er ihn auch weiterhin nicht an:
    »Gabriel Bagradian vertritt seinen Standpunkt immer sehr selbstherrlich. Uns billigt er keinen eigenen Verstand zu. Wir sind armselige Bauern. Er steht hoch über uns. Nun, ich will das gar nicht leugnen. Wir sind einfache Bauern und Handwerker und nicht seinesgleichen. Doch, da er uns so viele Fragen gestellt hat, so möchte auch ich ihm einige Fragen vorlegen. Er, als ausgebildeter Offizier, hat aus dem Damlajik eine gute Festung geschaffen, zugegeben! Aber was nützt uns diese ganze Festung und der Damlajik heute? Nichts! Im Gegenteil, er hindert uns daran, einen letzten Weg der Rettung zu suchen. Wenn die Türken klug sind, so lassen sie sich in gar keinen Kampf mehr ein, da sie ja ihr Ziel in ein paar Tagen ohne jeden Verlust erreichen können. Doch ob es nun zu einem Kampf kommt oder nicht, wo ist eine neue Idee, ein neuer Versuch, dem Tod zu entkommen? Es ist jedenfalls die bequemere Art, hier oben in den gewohnten Verhältnissen zugrunde zu gehen. Man braucht sich dabei wenigstens nicht anzustrengen. Ich aber halte dieses faule Hinnehmen, dieses schlappe Verkommen für verächtlich. Und die Frage aller Fragen: Was für Vorschläge hat Gabriel Bagradian gegen den Hunger zu machen? Genügt es, wenn er meine Versuche mit dem Fischfang bespöttelt? Es ist und bleibt leider das Einzige, was geschehen ist. Hätte man mich unterstützt, anstatt alle kräftigen Männer immer und immer nur exerzieren zu lassen, wären wir auch erfolgreicher gewesen …«
    Der Pastor, der bisher wenigstens die äußere Ruhe gewahrt hatte, sprang jetzt leidenschaftlich vor und schrie:
    »Ter Haigasun, ich stelle einen sehr ernsten Antrag. Alles noch vorhandene Vieh wird geschlachtet, gebraten und verteilt. Aufbruch in der nächsten, spätestens übernächsten Nacht. Lagerung an einer der Felsbuchten, die Fischreichtum verspricht!«
    Die rasche und schroffe Art dieses Antrags verwirrte die schwerfälligen Köpfe. Die Muchtars begannen sich auf ihren Bänken unbehaglich hin und her zu wenden wie betende Moslems. Der alte Tomasian, Arams Vater, blinzelte erschrocken. Kebussjan aber wischte seine schwitzende

Weitere Kostenlose Bücher