Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
sie eine fürchterliche Niederlage in den Augen des Volkes, der sie sich gar nicht aussetzen können. Im Gegenteil, sie werden alles tun, um uns das Leben der Geiseln abzukaufen, mit Mehl, Fett, Fleisch, und sogar mit Freiheit …«
    Der übermütige Optimismus Lehrer Schatakhians erregte den Hohn der Zweifler. Wiederum begann wie bei der letzten Beratung ein leerer und erboster Streit, bei dem keine Ansicht mehr klar zur Geltung kam. Nur mischte sich diesmal das drohende Volk nicht ein. Auf dem Altarplatz lungerten zwar dichte Gruppen der Bevölkerung, sie waren aber zu matt und kraftlos, um Forderungen zu stellen oder aufzubegehren. Die Stadtwache lag teils hindämmernd, teils schlafend vor der Regierungsbaracke. In dem Beratungsraum aber tat Asajan sein Bestes, um den Streit nicht erschlaffen zu lassen. Er wagte es sogar, dunkel auf die Proviantschätze des Hauses Bagradian anzuspielen, deren sättigender Besitz noch immer zu mutigen Träumen verleitete. Die Anspielungen trafen ihr Ziel nicht. Gabriel hatte schon einige Tage vorher alles, was er noch an Konserven besaß, in die Nordstellung bringen lassen, damit es an die Zehnerschaften verteilt werde. Tschausch Nurhan Elleon, der gewaltige Längerdienende, nahte dem spindeldürren Kirchensänger mit unheimlicher Breitspurigkeit, legte ihm seine lederharten Finger um das Hälschen und versprach, daß er ihn beim nächsten unsauberen Muckser glatt erwürgen werde. Ter Haigasun, der nach seiner Gewohnheit den Lärm eine Weile lang ertrug, suchte mit der trockenen Bemerkung Ruhe zu schaffen, man möge den Zwist über die Brauchbarkeit des Generals und Kaimakams erst dann austragen, sobald man sie gefangen habe. Indessen hatte sich Aram Tomasians der leidige Dämon völlig bemächtigt. Er beging die ebenso grundlose wie törichte Unvorsichtigkeit, auf den orthodoxen Priester loszufahren:
    »Ter Haigasun! Du bist das Oberhaupt und der Verantwortliche! Ich klage dich der Unentschlossenheit an. Du läßt alles gehn, wie es geht. Du willst es dir mit niemandem verderben. Es ist ein Wunder, daß wir bei deiner – wie nenn ichs – Gelassenheit den heutigen Tag überhaupt erlebt haben …«
    Dieser Anwurf gegen die höchste Autorität – ein unerhörtes erstmaliges Ereignis – empörte den Freigeist Altouni so sehr, daß er den altgläubigen Wartabed gegen den protestantischen Pfarrer schreiend in Schutz nahm:
    »Was hast du hier anzuklagen, junger Mensch? Das wäre noch schöner! Von uns und unserm Leben weißt du nichts, denn als kleiner Bursche hat dich dein Vater nach Marasch geschickt. Nimm dir also nicht mehr heraus, als dir zukommt!«
    Zurechtgewiesen wie ein dummer Junge und unter seiner eigenen Taktlosigkeit blutend, wurde Arams Stimme und Wesen noch schriller:
    »Es mag sein, daß ich ein Fremder hier bin und euch nicht verstehe, obgleich ihr die wirklichen Fremden unter euch sehr wohl versteht. Meinen Antrag aber halte ich aufrecht. Mehr noch! Ich bin für mich und für meine Familie entschlossen, so zu handeln, wie ich es für richtig halte. Wo steht es übrigens geschrieben, daß wir alle bis ans Ende zusammenbleiben müssen? Es wäre viel klüger, das gesamte Lager aufzulösen. Jede Familie soll sich retten, so gut sie kann. Der volle Haufen auf einem Punkt ist viel leichter abzufangen. Wenn wir uns lose über die ganze Küste zerstreuen, dann wird ein Teil wenigstens auf irgend eine Weise am Leben bleiben. Ich aber will meine Familie, meine ganze Familie zusammenpacken und mit ihr einen Weg finden. Meine ganze Familie hab ich gesagt, Gabriel Bagradian …«
    Während der vielen, oft sehr erregten Tagungen des Führerrates hatte Ter Haigasun niemals die Ruhe verloren. Selbst als er vor genau sechs Tagen Hrand Oskanian durch einen Fußtritt hinausbeförderte, geschah dies souverän, ohne daß er dabei aus der Fassung geriet. Auch jetzt zeigte er kein äußeres Erregungszeichen, als er sich erhob, sehr blaß und beinahe feierlich:
    »Schluß! Unsere Beratungen haben keinen Zweck mehr. Das Volk hat uns den Auftrag der Führung gegeben. Ich erkläre hiemit heute am achtunddreißigsten Tag diesen Auftrag für erloschen, da der Führerrat nicht mehr die innere Kraft und Einheit besitzt, Entschließungen zu fassen. Wenn es möglich ist, daß ein Mann wie Pastor Aram Tomasian, der für die innere Ordnung und Ruhe die Verantwortung trägt, selbst unsere Gemeinschaft aufzulösen trachtet, dann kann man auch von keinem andern mehr Gehorsam und Unterwerfung

Weitere Kostenlose Bücher