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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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deinem Kopf … Also spuck ihn aus, den Blödsinn, spuck ihn aus!«
    Diese Lästerungen und das Lachen Arzrunis riefen bei der jungen Mutter einen rasenden Schmerzensausbruch hervor. Sie erinnerte sich, daß ihr jemand die steife Kinderleiche nach einem langen Kampf aus den Armen gerissen hatte. Der Mann, einer von den Pflegern, war dann schnell davongelaufen, um ihr dreijähriges Söhnchen irgendwohin zu werfen. Stundenlang hatte sie die Leiche gesucht. Ach, sie war ins Meer geworfen worden, hoffentlich. Die Mutter wollte mit dem Kind im Meer sein. Kreischend sprang sie auf:
    »Warum redet ihr stundenlang? So kommt doch endlich!«
    Der Lehrer aber wies sie zurecht:
    »Es muß eine Reihenfolge sein.«
    Mitternacht war schon vorüber, als man daran ging, die Reihenfolge festzusetzen. Arzruni schlug das Los vor. Oskanian aber meinte, den Anfang müßten jedenfalls die Frauen machen, weil es sich so gehöre, die Älteste zuerst, dann die Jüngere und dann die Jüngste. Diese Entscheidung begründete er nicht näher, aber da keines der Weiber widersprach, so blieb es dabei. Zum Schluß erklärte er sich bereit, zwischen sich und seinem Apostel das Los sprechen zu lassen. Das Schicksal entschied gegen ihn oder, wenn man will, für ihn, denn es gab ihm den Vorzug vor dem Seidenweber. Die Zeit der großen Windstille herrschte. Das aufgerüttelte Meer jedoch brummte noch immer tief unten. Die Finsternis war zum Beißen. Der Lehrer tastete sich, unendlich vorsichtig kriechend, mit der Laterne ungefähr bis zum Rand des Felsens vor. Dort stellte er mit angstvoller Hand die Laterne hin. Das Licht kennzeichnete, sonderbar ruhig, die Grenze zwischen Hier und Dort. Oskanian zog sich schnell zurück. Dann machte er, als ein Wegweiser und Zeremonienmeister des Abgrunds, eine höflich einladende Handbewegung gegen die Laterne hin.
    Die Matrone kniete ein paar Minuten lang und bekreuzigte sich immer wieder. Dann ging sie mit eiligem Trippelschritt vorwärts und verschwand ohne Schrei. Die junge Mutter folgte ihr sogleich. Sie nahm einen Anlauf. Ein kurzer scharfer Schrei … Die Schwermütige war schon weit zaghafter. Sie bat den Lehrer, ihr im letzten Augenblick einen Stoß zu geben. Oskanian aber verweigerte diesen Dienst mit großer Heftigkeit. Die Schwermütige rutschte auf allen vieren zum Rand. Dort schien sie sich ihren Entschluß wieder zu überlegen. Sie griff nach der Laterne, warf sie dabei um. Die Laterne rollte ins Nichts. Anstatt sich ruhig zu verhalten oder zurückzukriechen, streckte das Mädchen aber die Hände nach der Laterne aus, beugte sich vor und verlor das Gleichgewicht. Ein gräßlicher endloser Schrei, denn die Unglückliche klammerte sich noch volle zwei Minuten an irgend einen Felsvorsprung an, ehe sie hinabsauste … Oskanian und Arzruni standen schweigend in der Finsternis. Eine lange, lange Zeit verging. Noch immer zerschnitt der Todesschrei der Schwermütigen das Hirn des Lehrers. Endlich mahnte der Apostel den Propheten:
    »Nun, Lehrer, die Reihe ist an dir …«
    Hrand Oskanian schien die Lage reiflich zu überlegen. Dann meinte er, ohne eine besonders selbstbewußte Stimme zu haben:
    »Die Laterne ist fort. In der Finsternis mag ichs nicht tun. Warten wir, bis die Dämmerung kommt. Lange kanns ja nicht mehr dauern …«
    Der Weber wendete mit Recht ein:
    »In der Finsternis ist es ja viel leichter, Lehrer!«
    »Für dich vielleicht, nicht für mich«, wies ihn der Prophet wütend zurück, »ich brauche Licht!«
    Margoss Arzruni gab sich mit dieser erhaben anmutenden Begründung offenbar zufrieden. Er hielt sich aber ganz nahe an Oskanian. Wenn der Lehrer, der sich neben ihm niedergelassen hatte, die leiseste Bewegung machte, packte er ihn sofort beim Rockzipfel. (Es war das schmutzige und zerrissene Wrack jenes schwalbenschwänzigen Prachtrocks, den sich Oskanian einst hatte anfertigen lassen, um Gonzague bei Juliette auszustechen.) Der Griff, mit dem Arzruni seinen Propheten festhielt, zeigte Angst, Ergebenheit und Mißtrauen. Hrand Oskanian war somit ein Gefangener seiner Lehre. Einmal sprang er jählings auf. Sofort aber schoß der Seidenweber neben ihm hoch. Es gab für ihn keine Aussicht, dem Jünger zu entkommen. Als nach einer Ewigkeit der Felsrand aus dem ersten nebligen Morgengrauen tauchte, erhob sich Arzruni und legte seinen Kittel ab:
    »So, Lehrer! Die Finsternis ist fort …«
    Oskanian rekelte ausführlich seine Glieder, gähnte, als habe er einen erquickenden Schlaf hinter sich,

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