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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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und stand gemächlich auf. Vorerst schneuzte er noch mehrmals trompetend seine Nase, bevor er, von seinem Apostel-Wächter gefolgt, die notwendigen Schritte machte. Ein gutes Stück vor dem scharfen Rand jedoch drehte er sich um:
    »Es ist besser, du beginnst, Weber!«
    Der verschrumpelte Arzruni im schmutzigen Hemd näherte aufmerksam seinen Kopf dem Gesicht Oskanians:
    »Warum ich, Lehrer!? Wir haben gelost. Das Los hat dich erwählt. Die drei Frauen sind uns vorausgegangen …«
    Oskanians umwuchertes Gesicht war weiß:
    »Warum du!? Weil ich der Letzte sein will! Weil ich nicht will, daß du hinterher davonläufst und dich lustig machst!«
    Es hatte zunächst den Anschein, als überlege der Seidenweber tiefsinnig Oskanians Äußerung. Dann aber stürzte sich der Apostel unvermutet auf seinen Propheten. Dieser hatte den Angriff vorausgewittert. Er fühlte sehr bald, daß er trotz seiner Kleinheit stärker als der ausgemergelte Arzruni war. Und doch drohte ihm der fanatische Weber, der sich in seinem Glauben betrogen sah, gefährlich zu werden. Oskanian ließ sich ein Stück gegen die Felsschneide vorwärtszerren. Ohne Zweifel wollte ihn der Rasende mit in die Tiefe reißen. Da warf sich der Lehrer plötzlich auf die Erde, krampfte die eine Hand in einen niedern Strauch fest, mit der andern packte er das rechte Bein des Webers und brachte ihn zu Fall. An den drahtharten Strauch geklammert, stieß er seine Füße mit wilden Tritten in Gesicht und Leib des Gestürzten. Wie es geschah, wußte er selbst nicht, in der nächsten Sekunde schon stießen seine Füße ins Leere. Der Körper Arzrunis, des Seidenwebers, schlug über den Felsrand in den Nebel hinaus. – Oskanian saß starr. Nun schob er sich, immer noch sitzend, zurück, weiter, weiter. Er fühlte sich gerettet. Jedoch nur einen kleinen Augenblick. Dann wußte er, daß ihm auch dieser Sieg nicht half. In die Gemeinschaft der Gerechten und Anständigen konnte er nie wieder zurückkehren, ebensowenig wie er fliehen konnte. Der kleine Lehrer sprang auf und ging mit stechenden Schritten hin und her. Während des Kampfes hatte ihm der Seidenweber den halben Schwalbenschwanz vom Rock gerissen. Seine spitze Brust bog sich vor wie immer in den mühsamen Stunden, da er seine arme Person zur Geltung bringen mußte. Manchmal aber klappte er zusammen und hüpfte im Nebel wie ein Vogel mit einer verwundeten Schwinge. Er versuchte sich mittels eines dichterischen Wortes, das sich plötzlich einstellte, selbst zu trösten und zu erschüttern. Zwanzigmal wiederholte er:
    »Im Sonnenschein, nicht in der Dämmerung.«
    Während dieser Gänge stolperte Oskanian über eine Stange. Es war die Fahne mit dem Hilferuf »Christen in Not«, die der Wind längst umgestürzt und vertragen hatte. Die Schüsselterrasse war sowohl als Späherposten wie als Begräbnisstätte schon seit Tagen verlassen. Hrand Oskanian nahm die ziemlich schwere Flaggenstange von der Erde auf, schulterte sie, ohne recht zu wissen, was er tat, und stapfte immer gehetzter umher, ein sonderbarer Fähnrich. Wie gerne hätte er die Sonne jetzt hinter das Amanusgebirge gebannt. Doch schon war sie da, rot und zornig. Noch ein hilflos zuckender Gedanke: Fort von diesem verfluchten Felsen! Ein Versteck suchen! Lieber langsam verhungern! Oskanian aber konnte nicht mehr zurück. Er mußte sein Wort vom Sonnenschein wahr machen. Die Frauen und der Weber warteten. Die Fahne vor sich hertragend, zögerte er auf den Rand zu. Der Nebel zerriß unter ihm. Breite Balken, Schwaden, Bänke zogen in verschlungenen Tänzen umeinander, hie und da ein Stück des Meeres freigebend, das glatt und stumpf wie dunkelgraues Tuch lag. Auf einer Stelle dieses Tuches schimmerte etwas. Hrand Oskanian schloß die Augen. Nun war er wirklich verrückt geworden, was er stets gefürchtet hatte. Immer wieder öffnete und schloß er die Augen. Der Nebel verschwand mittlerweile, das schimmernde Ding aber nicht, das auf dem weiten Tuche festsaß wie angeheftet. Es schimmerte eigentlich gar nicht so recht, sondern war ein großes, blaugraues Schiff mit vier Schloten, das, von der Höhe aus gesehn, ziemlich klein und nicht ganz ernsthaft wirkte. Einige Nebelfetzen umschwebten es noch. Der Lehrer hatte sehr scharfe Augen. Leicht konnte er in den angriffslustigen Strahlen der jungen Sonne die großen schwarzen Buchstaben am Bug erkennen: »Guichen«.
    Oskanian stieß ein paar jammernde Laute aus. ›Guichen‹. Das Wunder war geschehn. Doch nicht für

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