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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ihn. Alle durften gerettet werden. Nur er nicht. Auf einmal begann er die sich breit entfaltende Fahne zu schwenken: »Christen in Not«. Immer schneller, wie ein Wahnsinniger, schwenkte der Lehrer den gewichtigen Schaft, unermüdlich, minutenlang. Auf der Kommandobrücke des Panzerkreuzers wurde mit einer französischen Signalflagge geantwortet. Oskanian sah es nicht. Er wußte von sich selbst nichts mehr. Unablässig schwenkte er das weiße Laken in großen Halbkreisen. Er stöhnte vor Anstrengung. Doch solange er noch Kraft hatte, durfte er leben. Bagradians Haubitzen krachten weit oben. Immer kürzer und ungleichmäßiger schlängelten sich die Halbkreise der Armenierfahne. Vielleicht kann ich mich doch heimlich aufs Schiff retten, dachte es in Oskanian. Zugleich aber trat er, mehr vom Gewicht der Flagge als von seinem Willen vorwärtsgezogen, mit einem wilden Schreckensschrei ins Leere.
    In diesem Augenblick löste ein Vierundzwanzig-Zentimeter-Geschütz des ›Guichen‹ den gewaltigen Schuß gegen Suedja, der den Türken Halt befahl.
     
    Dem General, dem Kaimakam, dem Jüs-Baschi schmetterte dieses Halt in die Seele. Die Herren hatten sich vor einigen Minuten auf dem Standort des Majors zusammengefunden, auch der dicke leberkranke Kaimakam, für den das Frühaufstehn und die Bergbesteigung ein außerordentliches Opfer bedeutete. Die vier Kompagniekommandanten umgaben den Jüs-Baschi, um persönlich den Vorrückungsbefehl entgegenzunehmen. Die Kundschafter hatten während der Nacht vorzüglich gearbeitet. Die neuen Zufluchtstätten des Lagervolkes an der Steilküste waren einwandfrei aufgeklärt. Auch wußte man, daß zwei schüttere, schlechtgedeckte Schützenlinien den Damlajik gegen Süden abriegelten. Auf Befehl Ali Risas sollten deshalb nur zwei Kompagnien mit Maschinengewehren gegen diese schwachen Linien eingesetzt werden, und zwar zur selben Zeit, sobald im Norden die Gebirgsartillerie die armenischen Gräben einzutrommeln begann. Der Kaimakam und der Jüs-Baschi waren überzeugt, daß in einer Stunde ungefähr der Widerstand gebrochen sein werde. Dann sollten sich die Nord- und Südgruppe vereinigen, um gemeinsam das Lager am Meer auszuheben. Ein Entkommen gab es nicht mehr. Die erste Granate aus den Haubitzen Gabriel Bagradians schlug in die Steinhalde unterhalb des Felsturms, die zweite wich noch weiter ab, die dritte aber ging ziemlich in der Nähe der Offiziersgruppe nieder. Sprengstücke und Steinsplitter durchsangen die Luft. Zwei Infanteristen lagen wimmernd auf der Erde. Der Jüs-Baschi zündete sich gemächlich eine Zigarette an:
    »Wir haben Verluste, Herr General …«
    Das junge durchsichtige Gesicht Ali Risas war tiefrot geworden. Seine Lippen wurden noch schmäler als sonst:
    »Ich befehle Ihnen, Jüs-Baschi, daß dieser Bagradian nicht getötet, sondern mir persönlich vorgeführt wird.«
    Kaum aber hatte er diese Worte zu Ende gesprochen, erhob sich der haltgebietende Donner. Die Herren stürzten zu den westlichen Sicherungsschanzen, von denen man das Meer weit übersehn konnte. Blaugrau und fest saß der ›Guichen‹ mit seinen vier Schloten wie eingefroren auf der bleiernen Flut. Eine schwarze Qualmwolke lag über den Schloten. Der Mündungsdampf des Geschützes hatte sich schon verzogen. Der Kommandant schien nur einen Schreckschuß gegen die Orontes-Ebene abgegeben zu haben. Als erster fand der Kaimakam seine Stimme wieder. Sie bebte vor Erregung:
    »Damit wir uns verstehn, General! Sie befehligen die militärische Assistenz. Die Entscheidung liegt aber bei mir.«
    Ali Risa betrachtete, ohne zu antworten, den Guichen durch sein Fernglas. Der Kaimakam aber, der sich sonst in großen Augenblicken meist abwartend verschlafen benahm, verlor diesmal seine Ruhe:
    »Ich fordere Sie auf, General, die Operationen sofort beginnen zu lassen. Dieses Schiff dort kann uns nicht abhalten …«
    Ali Risa ließ das Glas sinken und wandte sich zu seinem Adjutanten:
    »Telephonieren Sie nach Habaste. Mein Befehl soll relaisartig mit allergrößter Schnelligkeit in die Geschützstellungen im Norden weitergegeben werden: Das Artilleriefeuer hat zu unterbleiben!«
    »Das Artilleriefeuer hat zu unterbleiben«, wiederholte der Adjutant und stürzte davon. Der Kaimakam richtete seine schlaffe, aber mächtige Gestalt hoch:
    »Was bedeutet dieser Befehl? Ich verlange Aufklärung, Effendi!«
    Der General beachtete ihn gar nicht, sondern richtete seine graublauen Augen auf den Jüs-Baschi:
    »Lassen Sie die

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