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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Greise schlugen die schreckerfüllten Augen auf, um das Licht ihres vierten Hungertages zu erblicken. Die Leute unten an der Küste sahen einen unglaubwürdigen Entkräftungstraum, der regungslos auf einem festen Meere ruhte. Einige versuchten sich aufzuraffen, um dieses Traumgesicht zu verscheuchen. Andre blieben gleichgültig auf dem harten Fels liegen, der ihre dünne Haut, die ohne Fleisch die Knochen bedeckte, durchgescheuert hatte. Sie drehten sich nicht einmal auf die andre Seite. Plötzlich jedoch hob unter den Erwachsenen ein kurzatmig hüstelndes Weinen an, das sich wie das schwache Gezeter schwerkranker Kinder ringsum ausbreitete. Und nun huschten auch die trägsten Schatten auf. Die Knaben, die noch die meiste Kraft besaßen, erkletterten die Klippen. Alles drängte zum Wasser.
    Der große Kreuzer Guichen ankerte etwa eine halbe Seemeile weit vor der Küste. Den Offizieren und Matrosen bot sich ein erschütterndes Bild. Sie sahen Hunderte von nackten, skelettdürren Armen, die sich ihnen entgegenstreckten, wie um Almosen bettelnd. Die menschlichen Gestalten, die zu diesen Armen gehörten, und gar die Gesichter, verschwammen selbst in den Ferngläsern gleich Gespenstern. Dazu erklang ein spitzes Stimmen-Durcheinander, das an das Zirpen von Insekten erinnerte und aus einer weit größeren Ferne zu kommen schien, als es tatsächlich kam. Dabei strömten zwischen den Steilwänden immer mehr von diesen menschlichen Zikaden herab und vermehrten die bettelnden Arme. Ehe der Kommandant des ›Guichen‹ noch einen Entschluß dieser Verfolgten wegen fassen konnte, sprangen von den Klippen zwei kleine Gestalten ins Wasser, Knaben jedenfalls, und begannen aufs Schiff hinzustreben. Sie kamen auch ungefähr bis auf hundert Meter heran, dann schienen die Kräfte sie zu verlassen. Man hatte ihnen jedoch vorsorglich ein Boot entgegengeschickt, das sie aufnahm. Ein andres Boot bewegte sich auf die Küste zu. Es sollte die Vertrauensleute dieser seltsamen »Christen in Not« an Bord bringen. Bald aber zeigte es sich, daß, wenn Gott ein Wunder schickt, die Wirklichkeit dieses Wunder noch immer mit hundert Tücken zu dämpfen weiß. Die Beschaffenheit der Steilküste war nämlich so schwierig, die Brandung so stark, daß selbst dieses gut bemannte Boot des ›Guichen‹ kaum zu landen vermochte, was eine große Rechtfertigung der mißglückten Fischerei Arams bedeutete. Es verging fast eine Stunde mit vergeblichen Landungsversuchen, ehe Ter Haigasun, Altouni und Hapeth Schatakhian aufgenommen werden konnten. Dies war die Stunde, in welcher der ›Guichen‹, durch das herausfordernde Artilleriefeuer auf dem Musa Dagh gereizt, hundertundzwanzig schwere Granaten in die muselmanische Ebene warf.
    Der Fregattenkapitän Brisson empfing die Abordnung in der Offiziersmesse, nachdem die Schiffsartillerie das Feuer schon eingestellt hatte. Brisson machte eine entsetzte Bewegung, als er die drei Männer sah, diese eingeschrumpften Körper in Lumpen, diese bartumwucherten Gesichter mit ihren hohen Stirnen und riesigen Augen. Ter Haigasun bot den wildesten Anblick. Sein halber Bart war weggesengt. Über die rechte Backe lief eine glühende Brandwunde. Da seine Alltagskutte in der Pfarrhütte in Flammen aufgegangen war, trug er noch immer die geliehene Decke über den Schultern. Der Fregattenkapitän reichte den Männern die Hand:
    »Der Priester … der Lehrer …?« fragte er. Schatakhian aber ließ ihm keine Zeit zu weiteren Erkundigungen, sondern riß seine ganze Kraft zusammen, verbeugte sich und begann jene Rede, die er auf dem Serpentinenweg zum Meere und später noch im Boote laut vor sich her entworfen hatte. Er leitete sie mit den unzutreffenden Worten »Mon général« ein. Vielleicht wars nur Verwirrung. Wer aber konnte schließlich von dem armenischen Volksschullehrer aus Yoghonoluk verlangen, daß er sich in der Rangordnung der französischen Marine gehörig auskenne, insbesondere da der sokratische Meister dieses Lehrers auf die Kriegswissenschaft nicht das geringste Gewicht zu legen pflegte. Nachdem Kapitän Brisson durch diese orientalisch ausschweifende Rede alles Nötige und manches Unnötige erfahren hatte, hoffte der durch sich selbst beglückte Sprecher, ein Wörtlein des Lobes werde aus solch erlauchtem Munde für seine makellose Akzentuierung fallen. Der Fregattenkapitän aber sah langsam von einem zum andern, um dann nach dem Mädchennamen Madame Bagradians zu fragen. Hapeth Schatakhian war überaus erfreut,

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