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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Männerstimmen. Die Leute fistelten auf einmal. Hohe und enge Töne stießen von allen Seiten auf Gabriel ein. Es klang fast wie eine zittrige Abart von Weibergekeif oder wie der Angstausbruch von Irren. Das Gefühl der Rettung rief, ehe es noch die Seelen in Besitz nahm, einen ansteckenden Stimmritzenkrampf hervor. Die Männer gehorchten sofort. Sie legten sich wieder in ihre Linien, das Gewehr vor sich, als sei nichts Erschütterndes geschehn. Nur Lehrer Hapeth Schatakhian forderte den Befehlshaber auf, ihn als Kommissar zum Meere hinabzusenden, da er, kraft seiner meisterhaften Beherrschung und Betonung der französischen Sprache, zweifellos der Berufene sei, die Verhandlungen zu führen. Der Lehrer strahlte übers ganze Gesicht. Gabriel Bagradian, der die Zehnerschaften durch sein eigenes Beispiel zusammenhalten wollte, bis die letzte Gefahr eines türkischen Angriffs geschwunden war, entließ Schatakhian mit folgenden Aufträgen: Es müsse unter allen Umständen eine stetige Verbindung des Lagervolkes unten am Meere mit den Verteidigern oben auf dem Berg aufrechterhalten bleiben. Ter Haigasun und Doktor Altouni möchten sich gemeinsam mit Schatakhian auf das französische Schiff begeben. Und dann: Der Kreuzerkommandant habe sogleich davon in Kenntnis gesetzt zu werden, daß sich unter dem Volke eine gebürtige Französin, und zwar in schwerkrankem Zustand, befinde.
    Das beginnende Artilleriefeuer gegen den Nordsattel bestätigte Bagradians Verdacht. Der Türke dachte gar nicht daran, seine sichere Beute ohneweiters aus dem Rachen fallen zu lassen. Sofort wurde eine Ordonnanz an Tschausch Nurhan abgefertigt: »Die Nordstellung muß bis zum letzten Mann gehalten werden.« Ehe nicht der entsprechende Befehl von ihm, Bagradian, eintreffe, hätten die Zehnerschaften unter keiner Bedingung die Gräben oder die Felsbarrikaden zu verlassen, in welchen sie während des Granatfeuers Schutz suchen sollten. – Nach kurzer Zeit aber erlahmte dieses Feuer, während die riesigen Schiffsgeschütze mit taktsicheren Donnerschlägen ihre Bomben gegen die muselmanischen Ortschaften sandten. In der Orontesebene schien das Weltgericht zu toben. Als Gabriel den Beobachterplatz erstiegen hatte, standen schon Suedja, El Eskel, Jedidje und selbst das entfernte Ain Jerab in Qualm und Flammen. Auf Pferden, Eseln, Ochsenkarren und in hellen Haufen floh das Volk ins armenische Tal hinein. Nach einer Weile kehrte Bagradian wieder zu den Haubitzen zurück. Hinter dem Sporn der Geschütze standen die schon tempierten Granaten. Er hatte die Absicht gehabt, die Geschütze nach Norden zu drehn und, wenn es so weit war, den türkischen Angriff unter Feuer zu nehmen. Er gab die Absicht auf, obgleich er die Gefahr noch lange nicht für gebannt hielt. Gabriel ließ sich neben den Haubitzen nieder. Er blickte hinaus und zugleich in sich hinein: Nun werde ich vielleicht in einigen Wochen wieder in Paris sein. Man wird die Wohnung in der Avenue Kléber beziehen und das alte Leben beginnen. Aber dieser Gedanke – vor einer Stunde noch die Vision eines Tollhäuslers – änderte nichts an der erstaunlichen Leere, die ihn erfüllte. Keine Spur des knieenden Jubels, des heißen anbetenden Dankes zu Gott, der durch ein unausdenkliches Wunder geboten war. Gabriel sehnte sich nicht nach Paris, nicht nach einer Wohnung, nicht nach Umgang mit kultivierten Menschen, er sehnte sich nicht nach Komfort, ja nicht einmal nach Sattessen, nach einem Bett und Reinlichkeit. Wenn er irgend eine Regung in sich verspüren konnte, so wars ein bohrendes Einsamkeitsbedürfnis, das von Minute zu Minute wuchs. Es hätte aber eine Einsamkeit sein müssen, die es gar nicht gab. Eine Welt ohne Menschen. Ein Planet ohne Bedürfnisse, Bewegung und Notdurft. Eine kosmische Einsiedelei und er das einzige Wesen darin, ruhevoll schauend, ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
    Die Lagerstätten der Dorfgemeinden lagen ziemlich weit auseinander. Yoghonoluk und Habibli befanden sich noch ziemlich auf der Höhe, während Bitias, Azir und Kebussije die einzigen Küstenplätze gewählt hatten, wo die zurücktretenden Steilwände ein paar unebene, mit hartem Strauchwerk bewachsene Plätze freiließen.
    Während Lehrer Oskanian die Notflagge schwenkte, schlief noch alles. Es war nicht der Schlaf von Menschen mehr, sondern der Schlaf unbelebten Stoffes, wie ein Fels oder ein Erdhaufen schläft. Der Donnerschlag des Schiffsgeschützes zerstörte ihn. Fast viertausend Frauen, Kinder und

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