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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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vorgeschwärmten Kompagnien zurücknehmen. Alle Truppen verlassen den Berg und ralliieren sich unten im Dörfertal. Abmarsch sofort!«
    »Ich verlange Aufklärung«, schrie der Kaimakam außer sich und seine Augensäcke wurden blauschwarz. »Das ist Feigheit. Ich bin Seiner Exzellenz verantwortlich. Es liegt kein Grund vor, die Operation abzubrechen!«
    Ein langer, kalter Blick des jungen Generals traf ihn:
    »Kein Grund? Wünschen Sie der alliierten Flotte Gelegenheit zu geben, die offene Küste zusammenzuschießen? Die weittragenden Geschütze reichen bis Antakje. Glauben Sie vielleicht, daß der Kreuzer dort allein bleiben wird, Kaimakam? Sollen die Franzosen und Engländer etwa Truppen landen und einen neuen Kriegsschauplatz mitten im unverteidigten Syrien etablieren? Was meinen Sie, Kaimakam?«
    Der Kaimakam aber, braungelb im Gesicht, raste mit Schaum vor dem Munde:
    »Das geht mich nichts an. Ich, als Verantwortlicher, befehle Ihnen …«
    Weiter kam er nicht. Der Gegenbefehl des Generals hatte natürlich auf keine Weise die türkischen Artilleriestellungen in diesen wenigen Minuten erreichen können. Die ersten Geschosse krachten in die Kerbung des Nordsattels. Sofort aber begannen sich die langen, eleganten Geschützrohre in den Panzertürmen des ›Guichen‹ zu drehn. Es vergingen kaum drei Atemzüge und die ersten schweren Granaten fielen mit ungeheuren Schlägen auf die Häuserkuben von Suedja, El Eskel, Jedidje. Sofort kroch an dem großen Kamin der Spiritusfabrik die amerikanische Flagge hoch. Einige türkische Holzhäuser begannen schon zu brennen. Ali Risa herrschte den Jüs-Baschi an:
    »Telephonieren Sie, Feuer einstellen, zum Teufel! Die Saptiehs sollen die Bevölkerung evakuieren. Alles ins Dörfertal!«
    Der sommersprossige Müdir aus Salonik, der als Untergebener bisher geschwiegen hatte, wurde nun auch von einem Koller gepackt. Durch die hohlen Hände schrie er, als wolle er sich trotz des brüllenden Feuers dem ›Guichen‹ verständlich machen:
    »Das ist ein Bruch des Völkerrechts … Offene Küste … Einmischung in die innere Politik …«
    Generalmajor Ali Risa aber hob seinen Spazierstock von der Erde auf und wandte sich zum Gehn. Die Offiziere umscharten ihn. Er drehte sich noch einmal um:
    »Warum schreien Sie so, Müdir? … Bedanken Sie sich bei Ittihad …«
    »Mir ist übel«, stöhnte der Kaimakam, der sich für seine Gesundheitsverhältnisse heute allzusehr übernommen hatte. Sein schwerer Körper sank zu Boden. Er schien mit aller Kraft gegen eine Ohnmacht anzukämpfen. Zwischen seinen schwärzlichen Lippen röchelten immer dieselben Worte hervor:
    »Das ist das Ende … Das ist das Ende …«
    Der Müdir mußte seinen kranken Vorgesetzten durch vier Saptiehs zu Tale tragen lassen.
     
    Man sollte wohl glauben, daß auch Gabriel Bagradian, nachdem das Bewußtsein des Wunders seinen Geist voll durchdrungen hatte, unter der Wucht der Erlösung zu Boden gestürzt wäre. Nichts aber geschah. Gabriels Gefühl konnte nicht mehr antworten. Auch die behutsamste Vorsicht des Wortes vermag kaum wahrheitsgetreu zu sagen, was in seinem Innern jetzt vorging. Nein, keine Enttäuschung. Enttäuschung wäre zu grob. Eher die unerwünschte Mühe, die ein todesmüder Organismus aufwenden muß, um sich neu einzustellen. So wehrt sich das menschliche Auge, unversehens aus Finsternis in grelles Licht geratend, gegen diesen jähen Wechsel, selbst wenn die Seele ihn ersehnt hat. Die erste Reaktion Bagradians war ein Befehl, den er die Verteidigungslinie durchlaufen ließ:
    »Keiner rührt sich fort! Jeder bleibt, wo er ist!«
    Dies war ein außerordentlich wichtiger Befehl. Denn erstens kannte Gabriel die Absichten der Türken nicht, dann hatte er die französische Flagge des Kriegsschiffes noch nicht mit eigenen Augen gesehn. Auch war es höchst unwahrscheinlich, daß dieses Schiff viereinhalbtausend Menschen aufnehmen konnte und wollte. – Nicht minder merkwürdig war die Wirkung des Wunders auf die Verteidiger, die nach dieser letzten endlosen Nacht der Todeserwartung wie gelähmt in den langen Schwarmlinien lagen. Ein Junge, atemlos gicksend, hatte die Meldung gebracht. Keinen Aufschrei löste sie aus, sondern vorerst eine starre Pause. Plötzlich aber zerbrach die Einteilung. Diejenigen, welche die Wundernachricht gehört hatten, drängten die Kuppe empor, zur Haubitzstellung, zum Befehlshaber. Nicht dies jedoch war merkwürdig, sondern die Verwandlung der tiefen und rauhen

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