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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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auch hierin dienen zu dürfen und so seine Vertrautheit mit stockfranzösischen Personalien zu bekunden. Nun aber nahm Ter Haigasun das Wort. Zur Verwunderung, ja zur Betroffenheit des Lehrers sprach er ein fließendes Französisch, wovon er bisher in so vielen Schuljahren nur recht wenig hatte verlauten lassen. Er wies sofort auf den Hunger und die Entkräftung des Volkes hin und bat um unverzügliche Hilfe, weil sonst so manche Frau und so manches Kind die nächsten Stunden kaum erleben werde. Während Ter Haigasuns Worten klappte Bedros Hekim zusammen und wäre fast vom Stuhle gesunken. Brisson ließ sogleich Kognak und Kaffee bringen und den Abgesandten eine reichliche Mahlzeit servieren. Es zeigte sich aber, daß nicht nur der alte Arzt, sondern auch die zwei andern kaum etwas genießen konnten. Indessen berief der Schiffskommandant den Proviantoffizier zu sich und traf Anordnung, daß ohne Verzögerung Boote mit allen verfügbaren Nahrungsmitteln an Land zu gehen hätten. Der Arzt, das Sanitätspersonal und eine bewaffnete Abteilung Matrosen erhielten ebenfalls Befehl, zu landen.
    Nachher erklärte Brisson den armenischen Männern, daß sein Panzerkreuzer keine selbständige Einheit, sondern die Vorhut eines englisch-französischen Geschwaders bilde, das die Aufgabe habe, in nordwestlicher Richtung die anatolische Küste entlang zu streifen. Der ›Guichen‹ sei gestern abend schon, drei Stunden vor der Hauptmacht, aus der Zypern-Bucht von Famagusta ausgelaufen. Der Höchstkommandierende der Flottille, der Contre-Admiral, befinde sich auf dem Linien- und Flaggschiff ›Jeanne d’Arc‹. Man habe seine Entscheidung abzuwarten. Vor einer Stunde schon sei ein Funkspruch an die ›Jeanne d’Arc‹ gesendet worden. Die Abgesandten aber möchten sich nicht ängstigen, denn es bestehe kein Zweifel darüber, daß ein französischer Admiral einen so tapferen Stamm des mißhandelten armenischen Christenvolkes nicht einfach seinem Schicksal überlassen werde. Ter Haigasun neigte seinen Kopf mit dem entstellten Bart:
    »Ich werde mir eine Frage gestatten, mein Herr Kapitän. Sie sind, wie Sie sagen, mit Ihrem Schiff nicht selbständig, sondern unterstehn dem Befehl eines Höheren. Wie kommt es dann, daß Sie sich nicht nach Nordwesten, sondern an unsre Küste hier gehalten haben …?«
    »Sie entbehren gewiß schon lange Zigaretten, meine Herren, ich überlasse Ihnen diese Schachtel sehr gerne …«
    Brisson überreichte dem Lehrer ein großes Zigarettenpaket und wandte dann seinen grauen Marinekopf mit nachsinnenden Augen Ter Haigasun zu:
    »Ihre Frage interessiert mich, mon père, denn ich habe tatsächlich gegen die Order gehandelt und bin von unserem Kurs beträchtlich abgewichen. Warum? Um zehn Uhr haben wir das Nordkap von Zypern passiert. Eine Stunde nach Mitternacht aber hat man mir ein großes Feuer an der syrischen Küste gemeldet. Es sah aus, als brenne eine mittlere Stadt. Ein großes Stück Himmel rot! Wir waren auf hoher See, mindestens dreißig Meilen vom Land. Dabei haben Sie, wie ich höre, nur einige Reisighütten angezündet. Freilich, der Nebel wirkt oft wie eine optische Vergrößerungslinse. Solche Dinge mögen schon vorkommen. Der halbe Himmel war rot, wirklich. Ich habe aus Neugier – es war wohl Neugier – den Kurs geändert …«
    Ter Haigasun erhob sich von seinem Stuhl. Es hatte den Anschein, als wolle er etwas sehr Wichtiges vorbringen. Seine Lippen bewegten sich. Auf einmal aber machte er einige unsichere Schritte gegen die Kabinenwand und preßte sein Gesicht an die Scheibe einer der Luken. Fregattenkapitän Brisson war der Meinung, der Priester erleide jetzt denselben Zusammenbruch wie vorhin der alte Arzt. Ter Haigasun aber drehte sich um. Sonne durchflutete die niedrige Offiziersmesse des Schiffes. Das Priestergesicht schimmerte in den Strahlen wie aus Ambra geschnitten. Ter Haigasuns Augen waren ertrunken, als er armenisch stammelte:
    »Das Böse ist nur geschehn … damit die Gnade Gottes möglich werde …«
    Er hob leicht die Hände, als sei für ihn alles Erlittene sinnvoll überwunden. Der Franzose konnte ihn nicht verstehn. Bedros Hekim war mit dem Kopf auf den Tisch gesunken und eingeschlafen. Hapeth Schatakhian aber dachte nicht an den Brand der Stadtmulde, der mit der gotteslästerlichen Altarflamme begann und mit der Erlösung endete.
     
    Zwei Stunden später stieg die mächtige ›Jeanne d’Arc‹ am Horizont auf und hinter ihr der englische und die beiden andern

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