Die vierzig Tage des Musa Dagh
Versteck? Denn so wie er jetzt lebt, kann kein sterblicher Mensch über die Dämmerung hinausleben. Nichts fragt in ihm. Seine Füße tragen ihn die gewohnten Wege. Der Dreizeltplatz. Die Zelte sind nicht nur aus wasserdichtem, sondern auch aus feuerfestem Stoff verfertigt und haben sich daher den Flammen widersetzt. Nicht einmal im Innern hat das Feuer Glück gehabt. Die Betten stehen unversehrt. Gabriel geht an Juliettens Zelt vorüber, ohne sich aufzuhalten. Vor der Stadtmulde macht er unentschlossen halt. Es zieht ihn nach Norden, in die große Stellung, zu seinem Werk. Dann aber nimmt er die andre Richtung, gegen die Haubitzkuppe. Vielleicht ist er sogar ein wenig neugierig, ob den Marine-Infanteristen die Sprengung der Geschütze gelungen ist. Zwischen Stadtmulde und Haubitzkuppe liegt der große Friedhof. Vierhundert Gräber haben in der mageren Erde dennoch Platz gefunden. Die aus der ersten Zeit tragen unbehauene Kalkblöcke und Platten mit schwarzgemalten Inschriften. Die späteren sind nur mehr durch leere Holzkreuze bezeichnet. Gabriel tritt zu Stephan. Der Aufwurf des Grabes ist noch ziemlich frisch. Wann haben sie ihn nur gebracht? Am dreißigsten Tage, und heute ist der einundvierzigste. Und wann war es, als er mich hier oben schlafend überraschte? Jetzt überrasche ich ihn wieder. Und wir sind wie damals allein auf dem Musa Dagh. Gabriel rührt sich nicht fort, denkt aber nicht nur an Stephan, sondern an hundert Begebnisse der Kampfzeit. Nichts stört die große Ruhe in ihm. Kaum merkt er, daß die Sonne untergeht.
Als es auf einmal kalt und dunkel wird, rüttelt er sich aus seiner Versunkenheit auf. Was war das? Fünf Schiffsirenen, in verschiedenen Tonlagen durcheinander, drohend, lang, doch unendlich fern. Gabriel reißt seinen Mantel vom Boden auf. Jetzt haben sie mein Fehlen entdeckt. Jetzt rufen sie mich. Auf die Schüsselterrasse! Ein Feuer anzünden! Vielleicht, vielleicht! Das Leben rast in ihm. Beim ersten Schritt aber fährt er zurück. Auf der Erde kriechend nähert es sich in einem Halbkreis. Sind es die wilden Hunde? Doch keine Augen glühn in der Dämmerung. Der kriechende Halbkreis erstarrt, zehn Schritt entfernt. Gabriel tut, als merke er nichts, blickt in die Luft, macht einen Schritt zurück und duckt sich hinter Stephans Hügel. Doch unvermutet blitzt es von der Seite auf, eins, zwei, dreimal.
Gabriel Bagradian hatte Glück. Die zweite Türkenkugel durchschmetterte ihm die Schläfe. Er klammerte sich ans Holz, riß es im Sturze mit. Und das Kreuz des Sohnes lag auf seinem Herzen.
Ende
Bibliographischer Nachweis
Die vierzig Tage des Musa Dagh.
Roman. Die erste Fassung entstand in der Zeit vom Juli 1932 bis zum 30. Mai 1933; F. W.s Notiz im Proömium ist ungenau: Auf dem letzten Blatt (737) der ersten Niederschrift (Österreichische Nationalbibliothek) findet sich die Datierung »B[reiten]stein 30/5 33«. Drei Viertel entstanden jedoch in Santa Margherita, der Abschluß erfolgte allerdings in Breitenstein; »fast unmittelbar danach begann er, ebenfalls in Breitenstein, an der zweiten Fassung … zu arbeiten … Vor der Drucklegung des ›Musa Dagh‹ schrieb Werfel noch eine dritte und eine vierte Fassung, arbeitete manche Passagen der drei Bücher, in die das Werk unterteilt war, … bis zu achtmal um« (Peter Stephan Jungk, ›Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte‹, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1988, S.208 bzw. 211 f.) Die endgültige Fassung (Handschrift, Special Collections Van Pelt Library, University of Pennsylvania) datierte er auf dem letzten Blatt (888) »B[reiten]stein 10/8 [1933] D[eo] G[ratias]«. Das Original widmete er »Meiner Alma, der allein ich dieses Buch verdanke Franz Weihnacht 1933.« Erste Buchausgabe: Berlin-Wien-Leipzig: Paul Zsolnay Verlag 1933. Zwei Bände; Textvorlage.
Anmerkungen
9
Enver Pascha:
(1881–1923), türkischer General und Politiker, stieß früh zu den Jungtürken und war an der Revolution 1908/09 beteiligt; gewann 1909–11 als Militärattaché in Berlin enge Beziehungen zu Deutschland, führte das Komitée ›Einheit und Fortschritte‹ beim Putsch im Januar 1913, der die Jungtürken endgültig an die Macht brachte; seit 1914 Kriegsminister und im Ersten Weltkrieg stellvertretender Oberbefehlshaber;
Pastor Johannes Lepsius:
(1858–1926), evangelischer Missionar, gründete 1895 die deutsche Orientmission, ist besonders durch sein Eintreten für die Armenier bekannt geworden;
13
Teskeré:
Inlandpaß (wörtlich:
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