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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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vor:
    »Ich werde Ihnen eine Gegenfrage stellen, Herr Lepsius. Deutschland besitzt glücklicherweise keine oder nur wenig innere Feinde. Aber gesetzt den Fall, es besäße unter anderen Umständen innere Feinde, nehmen wir an Franco-Elsässer, Polen, Sozialdemokraten, Juden, und zwar in größerer Menge als das der Fall ist. Würden Sie da, Herr Lepsius, nicht jegliches Mittel gutheißen, um ihre schwerkämpfende, durch eine Welt von äußeren Feinden belagerte Nation vom inneren Feinde zu befreien? Würden Sie es dann auch so grausam finden, wenn man die für den Kriegsausgang gefährlichen Bevölkerungsteile einfach zusammenpackte und in entlegene, menschenleere Gebiete verschickte?«
    Johannes Lepsius muß sich mit beiden Händen anhalten, um nicht aufzuspringen und hervorzufuchteln:
    »Wenn die Regierenden meines Volkes«, ruft er sehr laut, »ungerecht, gesetzlos, unmenschlich (unchristlich hat er schon auf der Zunge gehabt) gegen ihre Landsleute von anderem Stamm oder anderer Gesinnung vorgingen, so würde ich mich im selben Augenblick von Deutschland lossagen und nach Amerika ziehn!«
    Langer Augenaufschlag Enver Paschas:
    »Traurig für Deutschland, wenn andre auch so denken wie Sie. Ein Zeichen, daß Ihrem Volke die Kraft fehlt, seinen nationalen Willen rücksichtslos durchzusetzen.«
    An dieser Stelle des Gesprächs wird der Pastor von einer großen Müdigkeit heimgesucht. Sie kommt aus dem Gefühl, daß der kleine geschlossene Mensch dort in seiner Weise recht hat. So hat die verbissene Weisheit der Welt immer gegen Christus recht. Das Arge aber ist, daß sich Envers Rechthaben in diesem Augenblick auf Johannes Lepsius überträgt und seine Kampfkraft schwächt. Bergschwer fällt ihm das ungewisse Schicksal seines eigenen Vaterlandes auf die Seele. Er flüstert:
    »Der Vergleich stimmt nicht.«
    »Gewiß, der Vergleich stimmt nicht. Doch er fällt zu unseren Gunsten aus. Wir Türken haben es hundertmal schwerer, uns zu behaupten, als ihr Deutsche.«
    Lepsius zieht in qualvoller Zerstreutheit sein Taschentuch und hält es in der Hand wie eine Parlamentärflagge:
    »Es handelt sich hier nicht um den Schutz vor einem inneren Feind, sondern um die planvolle Ausrottung einer anderen Nation.«
    Er bringt das stumpf und stoßweise vor, während seine Augen, die Envers Gelassenheit nicht länger ertragen, in das Kabinett mit den Heroenbildern schweifen. Steht nicht Monsignore Sawen, der Patriarch, dort? Lepsius weiß sofort, er müßte über »Wirtschaft« reden. Schnell rafft er sich zu neuer Kraftanstrengung auf: »Exzellenz, ich bin nicht so vermessen, Ihnen die Zeit durch leere Gespräche zu rauben. Ich werde es wagen, Sie auf verschiedene Übelstände aufmerksam zu machen, die Sie sich selbst vielleicht noch nicht ganz klar gemacht haben, was bei der Amtsüberlastung eines Oberbefehlshabers selbstverständlich ist. Das Innere, Anatolien, Cilicien, Syrien kenne ich vielleicht besser als Sie selbst, da ich jahrelang in diesen Gebieten unter schweren Bedingungen gearbeitet habe.«
    Und er entwickelt nun mit gehetzten Worten, denn er fühlt die Zeit schwinden, seine Theorien. Ohne die armenische Millet sei das türkische Reich wirtschaftlich, kulturell und infolgedessen auch militärisch verloren. Warum? Er wolle gar nicht vom Handel reden, der sich zu neunzig Prozent in christlichen Händen befinde, auch wisse die Exzellenz so gut wie er, daß der gesamte Import von armenischen Firmen verwaltet werde, daß somit einer der wichtigsten Zweige der Kriegführung, die Versorgung des Reiches mit Rohstoffen und Fabrikaten nur von diesen Firmen durchgeführt werden könne. Er verweise auf ein Welthaus wie Awetis Bagradians Nachfolger, das in zwölf europäischen Städten Niederlagen, Büros, Vertreter besitze. Es koste sehr viel weniger Mühe, eine derartige Organisation zu vernichten, als Ersatz für sie zu schaffen. Was aber das Innere selbst anbetreffe, so habe er, Lepsius, auf seinen Reisen schon vor Jahren die Erfahrung gemacht, daß die armenische Landwirtschaft in Anatolien turmhoch über dem türkischen Kleinbauerntum stehe. Damals schon hätten die cilicischen Armenier aus Europa Hunderte von Dreschmaschinen und Dampfpflügen bezogen, womit sie den Türken einen trefflichen Anlaß zur Metzelei gaben, denn diese ermordeten nicht nur die zehntausend Leute von Adana, sondern schlugen auch die Dreschmaschinen und Dampfpflüge in Stücke. Hierin aber und nirgendwo anders stecke der Grund alles Übels. Die armenische

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