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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Millet, die kultivierteste und tätigste Schichte der ottomanischen Bevölkerung, mache seit Jahrzehnten die Riesenanstrengung, das Reich aus altertümlicher Naturalwirtschaft heraufzuführen in eine neue Welt zeitgemäßer Bodenkultur und beginnender Industrialisierung. Und gerade für diese segensreiche Pioniertat werde es von der Rache der gewalttätigen Faulheit verfolgt und vernichtet.
    »Nehmen wir an, Exzellenz, Handwerk, Gewerbe, Hausindustrie, die im Innern rein armenisch sind, könnten durch Türken ersetzt werden, wer aber ersetzt die vielen armenischen Ärzte, die an den besten Universitäten Europas studiert haben und die osmanischen Kranken mit der gleichen Sorgfalt pflegen wie ihre Volksgenossen? Wer ersetzt die vielen Ingenieure, Anwälte, Fachlehrer, deren Arbeit das Land unermüdlich vorwärts treibt? Vielleicht werden Exzellenz erwidern, man könne zur Not auch ohne den Intellekt leben. Doch ohne den Magen kann man nicht leben. Und gerade den Magen der Türkei zerschneidet man und hofft, diese Operation zu überstehen.«
    Enver Pascha hört, den Kopf sanft zur Seite neigend, diese Rede achtungsvoll zu Ende an. Sein ganzes Wesen, frisch, schnittig, nur durch jene leise Schüchternheit gedämpft, zeigt ebensowenig eine unvorhergesehene Falte wie seine Uniform. Der Pastor hingegen ist schon ganz aus der Form geraten. Er schwitzt, die Krawatte ist verrutscht und die Ärmel seines Rockes steigen nach oben. Der General kreuzt seine kurzen, aber schlanken Beine. Die blitzenden Lackreitstiefel sitzen wie auf dem Leisten.
    »Sie sprechen vom Magen, Herr Lepsius«, lächelt er entgegenkommend, »nun, vielleicht wird die Türkei nach dem Krieg einen schwachen Magen haben.«
    »Sie wird gar keinen Magen mehr haben, Exzellenz.«
    Ungekränkt fährt der Generalissimus fort:
    »Das Volk der Türken zählt vierzig Millionen. Nun versetzen Sie sich einmal auf unsere Seite, mein Herr! Ist es nicht ein großer und würdiger politischer Plan, diese vierzig Millionen zusammenzufassen und mit ihnen ein nationales Reich zu gründen, das in Asien dereinst die gleiche Rolle spielen wird wie Deutschland in Europa. Das Reich wartet. Wir müssen es nur ergreifen. Unter den Armeniern gibt es gewiß eine beängstigende Menge von Intelligenz. Sind Sie wirklich ein Freund dieser Art von Intelligenz, Herr Lepsius? Ich nicht! Wir Türken besitzen von dergleichen Intelligenz wenig. Dafür aber sind wir die alte heroische Rasse, die zur Errichtung und Beherrschung des großen Reiches berufen ist. Über Hindernisse werden wir deshalb hinwegsteigen.«
    Lepsius krampft die Hände zusammen, sagt aber kein Wort. Dieser verspielte und verzogene Knabe dort ist der unbeschränkte Herr über eine Weltmacht. Sein feingemodeltes verführerisches Köpfchen brütet Zahlen aus, die jeden Kenner der Wirklichkeit in Erstaunen versetzen müssen. Dem Pastor kann er nichts vormachen, denn der weiß genau, daß es in Anatolien kaum sechs Millionen reine Türken gibt. Wenn man nach Nordpersien, nach dem Kaukasus, nach Kaschgar und Turkestan geht, wird man zusammen mit allen zeltbewohnenden Türkvölkern und umherziehenden Rossedieben in Steppenländern groß wie halb Europa keine zwanzig Millionen herausschaben. Solche Träume, denkt er, erzeugt das Narkotikum des Nationalismus. Zugleich aber wandelt ihn ein Mitleid mit dem zartgestaltigen Kriegsgott an, mit diesem kindischen Antichrist. Johannes Lepsius bekommt eine leise, wissensschwere Stimme:
    »Sie wollen ein neues Reich gründen, Exzellenz. Doch der Leichnam des armenischen Volkes wird unter seinen Grundmauern liegen. Kann das Segen bringen? Ließe sich nicht noch jetzt ein friedlicher Weg finden?«
    Hier entblößt Enver Pascha zum erstenmal die tiefere Wahrheit. Er lächelt nicht mehr zurückhaltend, seine Augen werden starr und kalt, die Lippen weichen von einem großen, gefährlichen Gebiß:
    »Zwischen dem Menschen und dem Pestbazillus«, sagt er, »gibt es keinen Frieden.«
    Lepsius packt sofort zu:
    »Sie bekennen sich also offen zur Absicht, den Krieg zur völligen Ausrottung der armenischen Millet benützen zu wollen? …«
    Der Kriegsminister ist unbedingt zu weit gegangen. Er lenkt auch sofort ein, indem er sich wieder in die uneinnehmbare Festung seiner verbindlichen Unverbindlichkeit zurückzieht:
    »Meine persönlichen Meinungen und Absichten sind vollinhaltlich in den Communiqués enthalten, die unsere Regierung zu diesem Gegenstand veröffentlicht hat. Wir handeln unter dem Zwang

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