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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Mitverantwortlichkeit. Sie werden uns aber noch um ganz andere Dinge anbetteln müssen als um die Armenier.«
    Damit wäre wohl das Gespräch über die Verschickung für heute erledigt, würde nicht ein neugieriger Blick Envers die Depeschen streifen. Talaat Bey bemerkt den Blick und läßt, indem er sie schwenkt, die Papiere rauschen:
    »Die genauen Weisungen an Aleppo! Mittlerweile, denke ich, dürften die Straßen wieder leerer sein. Im Laufe der allernächsten Wochen werden Aleppo, Alexandrette, Antiochia und die ganze Küste abgehen können.«
    »Antiochia und die Küste«, wiederholt Enver fragend, als hätte er zu diesem Punkt eine Bemerkung zu machen. Aber er sagt keine Silbe mehr, sondern sieht gespannt auf die dicken Finger Talaats, die unaufhaltsam wie im Sturmangriff ihre Unterschrift unter die Texte setzen. Dieselben biedermännisch derben Finger haben den unchiffrierten Befehl verfaßt, der an alle Walis und Mutessarifs erging: »Das Ziel der Deportation ist das Nichts.« Die raschen Schriftzüge zeigen den Schwung einer unerbittlichen Überzeugung, die kein Bedenken kennt. Jetzt richtet der Minister seinen ungeschlachten Körper aus der gebückten Stellung auf:
    »So! Im Herbst werde ich all diesen Leuten mit der größten Aufrichtigkeit antworten können: La question arménienne n’existe pas.«
    Enver steht am Fenster und hat nichts gehört. Denkt er an sein Kalifenreich, das von Mazedonien bis Vorderindien reicht? Hat er Sorgen wegen des Munitionsnachschubs für die Armeen? Oder träumt er von neuen Erwerbungen für seinen zauberhaften Palast am Bosporus? Im großen Festsaal hat er den Hochzeitsthron aufstellen lassen, den Nadjieh Sultana, die Sultanstochter in die Ehe brachte. Vier Tragpfeiler von vergoldetem Silber und darüber ein Sternenhimmel aus byzantinischem Brokat.
     
    Johannes Lepsius schleicht noch immer durch die Gassen Stambuls. Es ist längst schon Nachmittag. Das Mittagessen ist versäumt. Der Pastor wagt sich nicht nach Hause, ins Hotel Tokatlyan. Ein armenisches Haus. Schreck und Niedergeschlagenheit herrscht dort von Wirt und Gästen angefangen bis zum letzten Kellner und Liftjungen. Sie kennen seine Wege, sie wissen von seinem Unterfangen. Kehrt er heim, so saugen alle Augen an ihm. Die Spitzel und Vertrauten, die ihn auf Anordnung Talaat Beys überall verfolgen, mögen ihn ruhig abpassen, wo sie nur wollen. Schlimm aber ist es, daß seine Freunde ihn seit Stunden irgendwo an einem ausgeklügelt sicheren Ort erwarten. Davidian, der Präsident der ehemaligen armenischen Nationalversammlung, ist darunter, einer der Verhafteten, der aber entflohen ist und sich illegal in Stambul aufhält. Lepsius hat nicht die Kraft und nicht den Mut, vor diese Männer zu treten. Schon dadurch, daß er nicht kommt, werden sie die Wahrheit wissen und hoffentlich auseinandergegangen sein. Selbst die schwärzesten Pessimisten unter ihnen (schwärzeste Pessimisten sind sie übrigens alle, nichts natürlicher), auch sie haben es nicht für gänzlich ausgeschlossen erachtet, daß der Pastor eine Reise-Erlaubnis ins Innere erhält. Damit wäre schon manches erreicht gewesen.
    Der Pastor gerät in einen öffentlichen Garten. Festlichkeit auch hier. An den Bänken schaukeln Girlanden. Von Stangen und Laternenmasten wehen Halbmond-Wimpel. Die Menschenmasse, eine unangenehm dicke Substanz, quetscht sich zwischen den Rasenplätzen über die Kieswege. In seiner Betäubung schwankend sieht Lepsius eine Bank. Er findet nun einen Platz unter andern. Vor ihm dehnt sich ein farbenbewegtes Halbrund. Im Musikpavillon dort bricht in derselben Sekunde eine türkische Militärbande in quinkelierende Janitscharenklänge aus. Pfeife, Flöte, schneidende Klarinetten, gellendes Blech, mit messerscharfer Einstimmigkeit die nahen Intervalle auf- und niederkletternd, dazwischen das fanatische Hundegebell der hochgespannten Trommeln, das klirrende Geschüttel des Schellenbaums und der zischende Haß der Tschinellen. Johannes Lepsius sitzt in dieser Musik bis zum Mund wie in einem Bad aus Glassplittern. Er aber will sich nicht befreien, er will leiden und preßt die Glassplitter mit beiden Händen in seinen Körper. Es wird ihm jetzt gewährt, was Enver Pascha versagte. In den langen Deportationszügen des ihm anvertrauten Volkes schleppt er sich über die steinigen und morastigen Landstraßen Anatoliens. Verdammen ihn die Seinen nicht, sie, die in den Schützengräben der Argonnen, auf den Feldern Podoliens, Galiziens, auf den

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