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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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örtlichen Bedingnisse genauer aus. Die Sandschak-Sitzung dauerte daher schon länger als die vornehme erste. Die Herren begaben sich zwar nachher ebenfalls ins Café oder ins Bad, doch sie schimpften bereits in ruppigem Türkisch über das armenische Gesindel, das mitten im schönsten Kriege solche Mühsal verursache. Nun kam die Reihe an die Kaimakams. Auch sie riefen in den Kreisstädten die Müdirs, ihre Bezirkshauptleute, zusammen; doch diese Sitzungen wurden nicht mehr feierlich »Konferenz« genannt. Die Müdirs waren fast durchwegs jüngere Männer, wenn man von einigen wenigen Graubärten absieht, die schon an der zivildienstlichen Majorsecke hängen geblieben waren. Der jeweilige Kaimakam sagte ihnen dasselbe, was der Wali dem Mutessarif und der Mutessarif dem Kaimakam gesagt hatte, nur freilich in einem weniger gewählten Ton:
    »Ihr habt so und soviel Tage Zeit. Bis dahin muß die letzte dieser unreinen Schweineherden die Grenzen unserer Kasah verlassen haben. Die Sache hat zu klappen. Ich mache euch dafür verantwortlich. Bei wem sie nicht klappt, der kommt in Untersuchung. Ich habe keine Lust, mich wegen andrer Leute pensionieren zu lassen.«
    Abgesehen von den wirklich Betroffenen, lag auf diesen Müdirs die ärgste Last der tragischen Maßnahme. Die Nahijehs, die Bezirke, die sie verwalteten, umfaßten große Gebiete, Eisenbahnen gab es so gut wie keine, Telegraphenlinien nur wenige, und Wagenfahrten waren auf den grausamen Straßen und Saumwegen zumeist eine Folterstrafe. Es blieb also nicht viel anderes übrig, als Tag und Nacht im Sattel zu sitzen, damit man jedes Dorf und jeden Flecken, in dem Armenier lebten, rechtzeitig auf die Beine bringen konnte. Rechtzeitig? Manchmal war diese rechte Zeit die Mitternacht vor dem Auszugsmorgen. Der Wali, der Mutessarif, der Kaimakam hatten leicht befehlen und verantwortlich machen. In den Städten wars ja ein Kinderspiel. Wenn man aber siebenundneunzig Flecken, Dörfer, Weiler und Gehöfte unter sich hatte, dann sah die Sache schon ganz anders aus. Mancher Müdir, der weder hexen konnte, noch allzu buchstabeneifrig war, entschloß sich daher, dieses und jenes unbedeutende abgelegene Dorf einfach nicht zu berücksichtigen. Viele der Müdirs handelten aus gutherziger Faulheit so, als welche ja einer der wichtigsten Antriebe menschlicher Wirksamkeit ist. Andre wiederum verbanden die milde Bequemlichkeit mit pfiffigen Nebengedanken. Solche »Nicht-Berücksichtigungen« konnten sich in der Folge gut bezahlt machen, denn der armenische kleine Mann und selbst der Bauer ist nicht unvermögend. Gefährlich waren dergleichen Ausnahmen nur dort, wo es einen ständigen Gendarmerieposten gab. Die Saptiehs wollten ihr eigenes Geschäft machen und welches Geschäft wäre einträglicher als die legale Plünderung, bei der die Behörde beide Augen zudrückt? Zwar verfiel das Gut der Verstoßenen verordnungsgemäß dem Staatssäckel. Dieser aber wußte genau, daß er nicht Machtmittel genug besaß, um seinen ehren werten Anspruch durchzusetzen, und daß es für ihn vorteilhaft war, die muntere Arbeitsfreude der ausübenden Organe wachzuhalten.
    Während in den Selamliks, Cafés, Bädern, Versammlungsorten der Provinz die moderne Welt (das heißt alles, was Zeitungen las, einen bescheidenen Fremdwörterschatz besaß, anstatt Karagöz, dem alttürkischen Schattenspiel, in Smyrna oder Stambul ein paar französische Komödien gesehen hatte und ansonsten den Namen Bismarck und Sarah Bernhardt kannte), während also diese Gebildeten, dieser fortgeschrittene Mittelstand sich restlos hinter Envers Armenierpolitik stellte, verhielt es sich mit den einfachen türkischen Menschen, mochten es nun Bauern oder das niedre Stadtvolk sein, durchaus anders. Oft staunte der Müdir auf seinen Rundreisen, wenn in einem Dorfe, wohin er den Austreibungsbefehl gebracht hatte, sich Türken und Armenier zusammenscharten, um miteinander zu weinen. Und er verwunderte sich, wenn vor einem armenischen Hause die türkische Nachbarsfamilie schluchzend stand und den Tränenlos-Erstarrten, da sie ohne sich umzuschauen aus ihrer alten Tür traten, nicht nur ein »Allah möge euch barmherzig sein« zurief, sondern Wegzehrung und große Geschenke mit auf den Weg gab, eine Ziege, ja selbst ein Maultier. Und der Müdir konnte auch erleben, daß diese Nachbarsfamilie die Elenden mehrere Meilen weit begleitete. Und er konnte erleben, daß sich seine eigenen Volksgenossen vor seine Füße warfen und ihn

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