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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Meeren und in den Lüften zerfetzt werden? Sind die endlosen Eisenbahnzüge mit Verwundeten nicht gräßlichere Transporte noch, angesichts derer man aufschreien muß? Bekommen die deutschen Verwundeten und Sterbenden nicht auch armenische Augen? Lepsius läßt zur Janitscharenmusik den müdigkeitswirren Kopf immer tiefer sinken. Nicht das Seine ist ihm zugeteilt, sondern das, was nicht sein ist.
    In die jaulende und eifernde Musik drängt sich ein neuer Ton, ein donnerndes Geschnatter, das immer stärker wird. Und es kommt von oben. Ein türkisches Luftgeschwader kreist über Stambul und wirft schwebende Wölkchen von Proklamationen ab. Johannes Lepsius weiß nicht warum, aber es ist ihm klar, daß diese Eindecker dort oben genannt werden müßten: Die Erbsünde und ihre Überhebung über sich selbst. Er irrt in dieser Erkenntnis umher wie in einem großen Haus, wie im Ministerium des Innern. Die wehenden Türvorhänge brennen und er rekapituliert eine Stelle aus der Offenbarung, die er bei seiner nächsten Rede anbringen will: Und die Heuschrecken sind gleich den Rossen, die zum Krieg bereit sind … und hatten Panzer und das Rasseln ihrer Flügel war wie das Rasseln der Kriegswagen … Und hatten Schwänze gleich den Skorpionen und es waren Stachel an ihren Schwänzen und ihre Macht war, zu beschädigen die Menschen fünf Monate lang.
    Johannes Lepsius schrickt auf: Es müssen neue Mittel und Wege ersonnen werden. Wenn die deutsche Botschaft versagt, so könnte der österreichische Markgraf Pallavicini, ein hervorragender Mann, vielleicht mehr Erfolg haben. Er könnte mit Repressalien drohen; die mohammedanischen Bosniaken sind österreichisch-ungarische Staatsbürger. Auch die päpstlichen Ermahnungen waren bisher zu lau. Im nächsten Moment aber nähert sich ihm Enver Pascha mit seinem unvergeßlichen Lächeln. Nein, schüchtern ist nicht das Wort für dieses Knaben- oder Mädchenlächeln des großen Mörders. Wir werden, Herr Lepsius, die Politik unserer Interessen durchführen bis zum Ende. Hindern könnte uns nur eine Macht, die über allen Interessen stünde und nicht in Schweinereien verwickelt wäre. Falls Sie so eine Macht im Diplomatenkalender finden, dürfen Sie noch einmal zu mir ins Ministerium kommen.
    Lepsius zuckt und ruckt auf der Bank so wild herum, daß seine verschleierten Nachbarinnen Angst bekommen und davongehen. Er bemerkt das gar nicht, denn nun erfüllt ihn die schwere Überzeugung ganz und gar: Es ist nichts mehr zu machen. Es gibt keine Hilfe mehr. Was der Priester Ter Haigasun in Yoghonoluk seit Wochen schon weiß, das überkommt nun auch den Pastor Johannes Lepsius: Es bleibt mir nur mehr eines übrig, – zu beten.
    Und unter diesem drängenden Festvolk, das an ihm mit Frauenlachen und Kindergekreisch vorbeilärmt, zur Janitscharenmusik, die von neuem losdrischt, während sein Kopf mit geschlossenen Augen ohnmächtig von einer Seite zur andern taumelt, faltet der Pastor oder glaubt wenigstens seine Hände zu falten, wie es sich gehört. Seine Seele aber hebt an zu sagen: Vater unser, der Du bist in dem Himmel, geheiliget werde Dein Name …
    Doch wie hat sich das Vaterunser verwandelt!? Jedes Wort ist ein Abgrund, den der Blick nicht ermessen kann. Schon bei dem Worte »unser« und »uns« erfaßt ihn ein Schwindel. Wer darf denn noch »uns« sagen, da Christus, der das »Wir« erst bindet und schafft, am dritten Tage gen Himmel fuhr? Ohne Ihn ist alles nur ein stinkender Scherben- und Knochenberg, hoch wie das halbe Universum. Lepsius muß an das Tagebuch seiner Mutter denken und an den Satz, den sie anläßlich seiner Taufe vor sechsundfünfzig Jahren niederschrieb: ›Möchte sein Name Johannes mich stets daran erinnern, daß es meine große heilige Aufgabe ist, ihn heranzubilden zu einem echten Johannes, zu einem solchen, der den Herrn recht lieb hat und der nachfolgt seinen Fußstapfen.‹ Ist er ein echter Johannes geworden? Ist er wirklich angefüllt bis oben von der Zuversicht, die man nicht nennen kann? Ach, diese Zuversicht droht zu zerbröckeln, wenn der Körper nachläßt. Die Zuckerkrankheit ist nun einmal da. Man muß mit den Speisen vorsichtig sein. Nichts Süßes vor allem, kein Brot und keine Kartoffeln. Vielleicht hat ihn Enver vor einer Verschärfung des Leidens dadurch bewahrt, daß er ihm die Reise nach Anatolien nicht erlaubte. Aber was will denn der Hotelportier vom Tokatlyan hier? Seit wann trägt er die Lammfellmütze des Offiziers? Schickt ihn Enver?

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