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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Höflich überreicht ihm der Hotelportier den Teskeré fürs Innere. Dieser besteht aus einer Photographie Napoleons mit eigenhändiger Unterschrift. Und richtig, vor der Drehtür des Hotels wartet der Verschickungstransport schon auf ihn. Alle seine Freunde sind da, Davidian und die andern. Sie winken ihm heiter zu. Die Leute sehen ausgezeichnet aus, denkt der Pastor. Auch die schrecklichste Wirklichkeit hat immer noch etwas Versöhnendes, wenn man ihr ins Auge sieht. Am Ufer eines Flusses macht man unter wildüberhängenden Felsen halt. Sie haben sogar Zelte mit. Vielleicht gestattet Enver unter der Hand diese oder jene Vergünstigung. Als sich alles hingelegt hat, tritt ein großer armenischer Mann in einem über und über mit Schlamm bespritzten Anzug auf ihn zu. Er spricht ein merkwürdiges, feierlich gebrochenes Deutsch: »Siehe, dieser reißende Strom ist der Euphrat und dies sind meine Kinder. Du aber lege deinen Körper von einem Ufer zum anderen, damit meine Kinder eine Brücke haben!« Lepsius tut so, als wäre es ein Scherz und versetzt: »Da müssen Sie und Ihre Kinder ein bißchen warten, bis ich noch etwas gewachsen bin.« Zugleich aber wächst er wirklich mit prachtvoller Schnelligkeit. Seine Hände und Füße rücken von ihm selbst unendlich in die Ferne ab. Jetzt könnte er die Forderung des armenischen Mannes mit wohliger Gelassenheit erfüllen. Es kommt aber nicht dazu, denn Johannes Lepsius verliert den Halt und wäre fast von der Bank gerutscht. »Es ist wirklich furchtbar«, sagt er das zweitemal an diesem Tage zu sich selbst. Doch er meint mehr den Durst damit, der ihn quält, als alles andere. Er rüttelt sich auf, läuft in den nächsten Ausschank und stürzt, ohne der ärztlichen Vorschriften zu achten, ein süßes Eisgetränk gierig hinunter. Mit dem Wohlgefühl strömen neue mutige Pläne in ihn ein. »Ich werde nicht locker lassen«, lacht er zerstreut vor sich hin. Und dieses gedankenlose Lachen ist eine Kriegserklärung an Enver Pascha.
    In derselben Minute übergibt der Privatsekretär Talaat Beys die bewußten Staatstelegramme, Aleppo, Alexandrette, Antiochia und die Küste betreffend, eigenhändig dem diensthabenden Vorstand des Post- und Telegraphenamtes.

Sechstes Kapitel Die große Versammlung
    Seit dem Tage, an dem sich Djelal Bey, der ehrwürdige Wali von Aleppo, geweigert hatte, die Verschickungsbefehle der Regierung in seinem Wirkungsbereich zu vollstrecken, seit jenem Frühlingstage kam es in der Armenierpolitik Envers und Talaats zu keinem hemmenden Zwischenfall und peinlichen Anstand mehr. Nach einer bestimmten, wohlbedachten Ordnung liefen bei den Statthaltern des Reiches die Avisi des Ministeriums ein, denen dann die allfälligen Durchführungsbefehle zur gegebenen Zeit folgten. Das bürokratische Schaltwerk arbeitete ausnahmsweise mit erstaunlicher Pünktlichkeit, so daß es für ein Beamtenherz diesbezüglich eine Lust zu leben war. Die Walis der einzelnen Provinzen riefen, bereits nach Einlangen der Avisi, die Mutessarifs der Sandschaks, in die ihr Vilajet zerfiel, zu einer dringenden Konferenz zu sich. Dieser Konferenz wurden außerdem noch die militärischen Spitzen des Gebietes beigezogen. Seine Exzellenz, der Wali so und so Pascha, erklärte bei der Sitzung etwa folgendes: »Die Herren haben zur Vollstreckung der Maßregel einen Spielraum von vierzehn Tagen. Bis dahin muß der letzte Trupp der exilierten Bevölkerung die Grenzen des Vilajets tot oder lebendig hinter sich haben. Ich werde Sie für den durchgreifenden und aufschublosen Vollzug schon deshalb verantwortlich machen, weil ich selbst dem Herrn Minister des Innern dafür hafte.«
    Der Konferenz wurde sodann ein von der Statthalterei ausgearbeiteter Plan zur Begutachtung vorgelegt, der die Reihenfolge der Verschickungen einteilte. Die Mutessarifs brachten ihre Einwände und Verbesserungen an, der General traf seine Verfügungen über die begleitenden Truppen und Gendarmen. Ungefähr nach einer Stunde konnte man sich dann ins Bad oder ins Café begeben, wenn nicht gerade beim Wali ein Festmahl stattfand. Die Mutessarifs kehrten in ihre Residenzen zurück. Und nun wiederholte sich das Spiel. Sie beriefen nämlich ihrerseits eine Konferenz ein, zu der nunmehr die Kaimakams der einzelnen Kasahs erscheinen mußten, in die der Sandschak zerfiel. Wiederum wurde der militärische Kommandant zugezogen, der natürlich kein General mehr war. Man prüfte nun den Plan des Wali und arbeitete ihn in Ansehung der

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