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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Hükümets getreten war, belehrte ihn ein großer Wandanschlag sogleich eines Schlechteren. An keinen Armenier, so wurde dort verlautbart, dürften Fahrkarten für Eisenbahn und Reisepost ausgegeben werden. Und was noch bedenklicher war, es hieß wörtlich:
    »Wo immer ein Angehöriger der armenischen Millet außerhalb seines Wohnsitzes ohne Paß und Reiseschein angetroffen wird, hat er festgenommen und dem nächstgelegenen Deportationslager eingereiht zu werden.« Diese scharfe Verordnung, die einige Artikel umfaßte, war von Mustafa Abdul Halil Bey unterfertigt, dem gefügigen Nachfolger des tapferen Djelal. Trotz der Drohung schlenderte Bagradian durch den Bazar. Die enge sonst so vollgestopfte Straße war fast menschenleer und zeigte eine verschrockene Trauermiene. Obgleich die Verbannung sie noch nicht getroffen hatte, hielten die armenischen Händler ihre Läden gesperrt und schienen vom Erdboden verschluckt zu sein. Doch auch die mohammedanische Bevölkerung hatte keineswegs zu lachen. Der erste Schatten nämlich, den die Sünde wider die Armenier auf das Reich warf, war ein jäher Wertsturz des türkischen Papiergeldes. Seit einiger Zeit wollten sich die Kaufleute nur mehr mit Gold und Silber bezahlt machen, worauf diese schamhaften Metalle sogleich keusch von allen Märkten verschwanden. Die Wirtschafts-Weisen in den Ministerien von Stambul gaben verwickelte Erklärungen für das Geheimnis der unbegründet-plötzlichen Entwertung. Daß aber der Kreislauf des Geldes von den Marktverhältnissen der moralischen Welt abhängen könnte, darauf ist bis zum heutigen Tage kein Wirtschafts-Weiser gekommen. Die Türken in Antiochia drückten sich mit schlappen und beklommenen Schritten durch den Bazar, der mit seinen Pfützen, Gossen und Abfallhaufen wie eine nächtliche Vorstadtgasse aussah.
    Gabriel fand das altertümliche Haustor des Agha Rifaat Bereket verschlossen. Er hämmerte mehrmals mit dem Klopfer gegen das kupferbeschlagene Holz, doch kein Mensch meldete sich. Der Agha war also von seiner anatolischen Reise noch nicht heimgekehrt. Obgleich Gabriel wußte, daß diese Reise der Hilfe für das armenische Volk galt, so erfüllte ihn das Fernsein des Vaterfreundes jetzt mit Kümmernis.
    Nach der Rückkunft beschloß Bagradian, auf all seinen ferneren Fahrten den äußersten Umkreis des Musa Dagh nicht mehr zu verlassen. Der Grund dafür lag in der zauberhaft beschwichtigenden Wirkung, die der Heimatberg je länger je stärker auf ihn ausübte. Noch immer, wenn er morgens das Fenster öffnete und den Berg grüßte, erfüllte ihn jenes feierliche Erstaunen, das er nicht verstand. Die lastende Masse des Musa Dagh, zu jeder Stunde anders gestaltet, jetzt dicht zusammengeballt, jetzt flockig im Sonnendunst sich lösend, dieses in allen Verwandlungen ewige Bergwesen schien Gabriels Kräfte zu beleben und ihm den Mut für das qualvolle Hin und Her jener Gedanken zu verleihen, die ihm seit der Ankunft des Pastors Aram Tomasian den Schlaf raubten. Verließ er aber den Schatten des Musa Dagh, so sank der Mut für diese Gedanken sogleich. Indessen aber trugen seine eifrigen Streifzüge in den Dörfern gute Früchte. Er gewann, was er anstrebte, eine ziemlich lückenlose Übersicht nicht nur des äußeren Lebens und Treibens dieser Bauern, Obstzüchter, Seidenspinner, Schalweber, Imker und Holzschnitzer, sondern er durfte auch manchen Blick in ihre Familienbeziehungen und verschlosseneren Seelenbezirke tun. Das war freilich nicht immer ganz leicht. Viele Landsleute sahen in ihm zuerst nur den vornehmen Fremdling, mochte er auch durch Sippe und Besitz mit ihnen verbunden sein. Awetis Bagradian, der Jüngere, war ihnen natürlich näher gestanden, obgleich der wortkarge Sonderling sich um keinen Menschen gekümmert hatte, auch nicht um Krikor, Ter Haigasun, die Lehrer, und kaum jemals in die Dörfer herabgekommen war. Gleichviel, er lag auf dem Kirchhof von Yoghonoluk mitten unter ihren Toten. Mit der Zeit aber wuchs das Vertrauen zu Gabriel und sogar eine heimliche Hoffnung, die sie in ihn setzten. Der Effendi war gewiß ein mächtiger Mann, den das Ausland kannte und den die Türken seines Einflusses halber fürchteten. Solange er in Yoghonoluk weilte, würde vielleicht das Ärgste über die Dörfer nicht hereinbrechen. Niemand gab sich Rechenschaft über den wirklichen Wert solcher Hoffnungen. Es war aber noch eine andere Witterung dabei. Wenn Gabriel über die Zukunft auch ebensowenig wie die anderen sprach, so konnten

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