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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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vorüberrückte.
     
    Lange Wochen! In Yoghonoluk nahm, wie man so sagt, das Leben ruhig seinen Lauf. Freilich war hier die Redensart kaum im oberflächlichen Sinne zutreffend. Die Leute sprachen wohl nicht viel »davon«, aber das Unheimliche war, daß sie nahezu überhaupt nichts sprachen. Die Arbeit in den Feldern und Gärten, am Webstuhl und an der Drehbank wurde geleistet wie immer, unermüdlicher vielleicht, ja fieberhafter denn je. Die Verkäufer zogen sogar auch zu den Wochenmärkten nach Antiochia und brachten ihre Ware in gewohnter Weise los. Ebenso kamen nach altem Brauch die türkischen Einkäufer in die Dörfer und handelten gemächlich um jeden Para, als wäre nichts Besonderes im Gange. Alles war wie immer und doch ganz anders. Es lag auf den Menschen wie ein hypnotischer Schlaf, in dem man seinem regelmäßigen Geschäft nachgehen kann, ohne bei Sinnen zu sein. Jeder wußte alles. Jeder wußte, daß sein Leben vielleicht nur mehr eine Frage von Wochen war. Er wußte das und wußte es auch wieder nicht. Konnte denn die Gefahr an den Kindern des Musa Dagh nicht vorübergehen, da sich bis jetzt noch nichts gerührt hatte? Lud die abseitige Lage des Bezirkes die Machthabenden nicht ein, ihn zu vergessen? Verbarg sich unter der tiefen Stille nicht ein gutes Zeichen? So kam es auch, daß jeder diese Stille noch durch sein eigenes Schweigen steigerte, um die Geister nicht zu wecken, daß jeder sich in den geschäftigen Lebensschlaf seines Alltags verbohrte, um so zu tun, als wandle er in ewiger Sicherheit. Das Vorbild für diese Verhaltensweise gaben Arzt Altouni, Apotheker Krikor und sogar Ter Haigasun. Der alte Doktor stattete auf dem Rücken seines Reitesels weiter Krankenbesuche ab, indem er auf sein verpfuschtes Lebenslos schimpfte, als könne es gar nicht mehr schlimmer kommen. Krikor versammelte die Lehrer zu nächtlich-sokratischen Spaziergängen um sich und nannte die Sterne samt ihren Entfernungen mit sicheren Namen und Zahlen, gegen die es keinen Widerspruch gab. Wenn die Billionen Meilen durch die Luft schwirrten, war auch das leiseste Echo des Unglücks nicht vernehmbar. Krikor zog sich auf den Flügeln der Lichtgeschwindigkeit zu den von ihm eigenmächtig getauften Sternen zurück. Ein Blick empor genügte und die Ausstoßung wurde zu einem müßigen Gerücht. Vielleicht glaubte er wirklich nicht an sie. Schwarz auf Weiß stand darüber nichts zu lesen. Armenische Zeitungen trafen nicht mehr ein und die türkischen hatten bisher nur zweimal sanftoffizielle Andeutungen gebracht. Auch Ter Haigasun entfaltete, ohne rechts und links zu schauen, die gleiche Tätigkeit wie stets. Er gab in der Schule Unterricht, er las die feierlichen Messen, er unternahm die gewohnten Diözesanreisen. Der Priester hatte darauf bestanden, daß auch in diesem Jahre die altheilige Wallfahrt zum Thomaskloster begangen werde, wobei seit Menschengedenken das Madach-Opfer in Gestalt eines Lämmchens dargebracht wird. Nur das große Volksfest, das man nachher mit Musik und Tanz bis in den nächsten Morgen hinein zu feiern pflegte, war diesmal abgesagt worden, doch ohne jede Begründung durch Ter Haigasun.
    Es konnte demnach nicht fehlen, daß bei solch ruhigem Betragen der einheimischen Geisteshäupter die beiden Fremden, die Europäer Juliette und Gonzague sich völlig unbekümmert zeigten. Eines Tages meinte Juliette wirklich und wahrhaftig zu ihrem Gatten:
    »Bis zum Herbst, mein Lieber, bleibe ich dir nicht hier. Langsam bekomme ich Sorge um Frankreich. In den letzten Tagen habe ich oft an Mama denken müssen.«
    Der lange, rätselhafte Blick Gabriels aber gab ihr zu verstehen, daß sie etwas ganz Vermessen-Unsinniges gesagt hatte.
    Gabriel Bagradian setzte seine Erkundungszüge durch die Dörfer fort, er dehnte sogar sein Studiengebiet aus; im Süden kam er jetzt oft über Suedja hinaus und im Norden nach einem vielstündigen Ritt einmal bis Beilan, dem verwaisten Villenort der reichen Armenier von Alexandrette. Ein einziges Mal wagte er sich wieder nach Antiochia. Die Orontesbrücke bewachten im Gegensatz zur früheren Zeit ein paar Saptiehs. Sie fragten Gabriel nicht nach seinen Papieren und ließen ihn gleichgültig vorbei. Einen Augenblick lang wähnte er, sämtliche Postenketten des Reiches würden ihn und den Wagen mit Juliette und Stephan ebenso anstandslos passieren lassen wie diese hier. Vielleicht war die Rettung leichter zu bewerkstelligen als er ahnte. Sobald er aber in die neue Nachrichtenhalle des

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