Die vierzig Tage des Musa Dagh
bezahlt.« Plötzlich hält er seinen Nachbarn fest. Schwärmerischer Schmerz schüttelt ihn:
»So ein schönes Kind hast du noch nie gesehn. Augen wie Teller groß hat das Mädel. Wenn ich nur könnte, wie eine Schlange wollt ich ihr auf dem Bauch nachkriechen.« Dann torkelt er weiter, ganz vereinsamt und umschlossen von seinem Weinen. Am Abend wirft man sich auf einem Berghang hin. Auch der Ingenieur scheint zu schlafen. Lange nach Mitternacht weckt er denselben Nachbarn. »Nun sind sie alle schon tot«, sagt er und ist ganz ruhig. – Da wandert in einem andern Transport ein Brautpaar. Sie sind noch sehr sehr jung. Dem Bräutigam färbt kaum noch ein leichter Flaum die Oberlippe. Die Stunde droht heran, da die kräftigen Männer ausgeschieden werden sollen. Die Braut kommt auf den guten Einfall, ihren Geliebten in Frauenkleider zu stecken. Die List gelingt. Schon lachen die beiden Kinder in ihrer Seligkeit über die gückliche Verwandlung. Die andern aber warnen vor übereiltem Triumph. In der Nähe einer größeren Stadt kommen ihnen fremde Tschettehs, bewaffnete Freischärler, entgegen. Sie sind auf lustiger Frauenjagd begriffen. Die Wahl trifft unter anderen die Braut. Sie klammert sich an den Bräutigam: »Um Gottes Willen laßt mich bei ihr! Meine Schwester ist taubstumm. Sie braucht mich!« »Das ist kein Grund, dschanum, mein Seelchen! Die Hübsche da kommt auch mit.« Das Paar wird in ein schmutziges Haus verschleppt. Dort entpuppt sich die Wahrheit schnell. Die Tschettehs töten den Jüngling augenblicklich. Der Geschlechtsteil wird ihm abgeschnitten und in den Mund gesteckt, dessen Lippen noch mit Henna rotgefärbt sind, damit er mehr nach einer Frau ausschaue. Nach dem grauenhaftesten Mißbrauch wird das Mädchen nackt an die Leiche des Bräutigams gebunden, und zwar Kopf an Kopf, so daß sie das blutige Glied mit ihrem Gesicht berühren muß. – Wandernder Teppich, aus Schicksalen gewoben, die niemand entwirrt. Da ist immer wieder die Mutter, die tagelang ihr verhungertes Kind in einem Sack auf dem Rücken trägt, bis sie ihre eignen Verwandten bei den Saptiehs anzeigen, weil sie den Geruch nicht mehr ertragen können. Da sind die wahnsinnigen Mütter von Kemach, die hymnensingend ihre Kinder von einem Felsen herab in den Euphrat werfen, mit leuchtenden Augen, als sei dies ein gottgefälliges Werk. Und da ist immer wieder ein Bischof, ein Wartabed. Und er schürzt seine Kutte, wirft sich nieder vor dem Müdir, weint: »Hab Erbarmen, Effendi, mit diesen Unschuldigen.« Der Müdir aber muß eine vorschriftsmäßige Antwort geben: »Mische dich nicht in Politik! Mit dir habe ich nur in kirchlichen Fragen zu verhandeln. Die Regierung achtet die Kirche.« – In manchen Transporten ereignet sich oft auch gar nichts Besonderes, keine bemerkenswerten Greuel, außer Hunger, Durst, Fußwunden und Krankheit. Aber es stand einmal eine deutsche Diakonissin vor dem Krankenhaus in Marasch, wo sie eben zur Dienstleistung eingetroffen war. Eine lange stumme Armenierschar trabte an dem Haus vorbei, in das sie eben treten wollte. Sie vermochte sich nicht zu rühren, bis die letzte Gestalt verschwunden war. In der Schwester ging etwas vor, was sie selbst nicht verstand: kein Mitleid, nein, auch kein Grauen, sondern etwas Unbekannt-Großes, eine Erhebung fast. Am Abend schrieb sie ihren Angehörigen: »Mir begegnete ein großer Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in recht guter Verfassung waren. Ich mußte lange warten, um sie vorüberziehen zu lassen, und nie werde ich den Anblick vergessen. Einige wenige Männer, sonst nur Frauen und Kinder. Viele darunter mit hellem Haar und großen blauen Augen, die uns so todernst und mit solch unbewußter Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts.« Und diese armen Engel des Gerichtes zogen aus Zeitun, Marasch und Aïntab und dem Vilajet Adana; sie zogen aus dem Norden herab, aus den Provinzen von Siwas, Trapezunt und Erzerum; sie kamen aus dem Osten, aus Karputh und dem kurdenbewohnten Diabekir, aus Urfa und Bitlis. Jenseits des Taurus, noch vor Aleppo, verwoben sich all diese Transporte zu dem unendlichen, schleichenden Menschenteppich. In Aleppo selbst aber geschah nichts und in den wimmelnden Sandschaks und Kasahs des Vilajets geschah ebensowenig. Friedlich und unberüht lag die Küste, ruhte der Musa Dagh. Er schien die grausige Wanderung nicht zur Kenntnis zu nehmen, die in mäßiger Ferne an ihm
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