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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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anflehten:
    »Laß sie bei uns! Sie haben nicht den richtigen Glauben, aber sie sind gut. Sie sind unsre Brüder. Laß sie hier bei uns!«
    Doch was half das? Selbst der gutmütigste Müdir konnte nur in ein paar namenlosen Einöd-Dörfern eine Ausnahme machen und es heimlich dulden, daß sich ein Rest der verfluchten Rasse dort unter der Decke seiner Todesangst verkroch.
    Über die Dorfpfade aber stolperte es dahin, in die Karrenwege bog es ein, auf den Landstraßen stieß es zusammen, um nach Tagen endlich die große Chaussee zu erreichen, die über Aleppo nach Südosten und in die Wüste führt. Ein schleppender, millionenfüßiger Rhythmus, den die Erde noch nicht erlebt hatte. Mit wahrhaft strategischer Umsicht war der Aufmarsch dieser Armee entworfen und eingeleitet worden. Nur eines hatten die verborgenen Feldherren ganz und gar vergessen: den Verpflegsnachschub. Die ersten Tage wurde wohl noch etwas Brot und Bulgur, gedörrter Weizen, gefaßt, aber da war der eigene Proviant noch nicht aufgezehrt. In diesen ersten Tagen hatte auch jeder Erwachsene das Recht, vom Onbaschi, dem Rechnungsunteroffizier des Transportes, die Auszahlung einer gesetzlichen Löhnung von zwölf Para, vierzig Groschen ungefähr, zu verlangen. Doch die meisten hüteten sich wohl, diese Forderung zu stellen, durch die sie sich nur den Haß eines Allmächtigen zugezogen hätten; und dann, für zwölf Para bekam man bei der herrschenden Teuerung im besten Fall einige Orangen oder ein Hühnerei zu kaufen. Mit jeder Stunde wurden die Gesichter hohler, der millionenfüßige Schritt taumelnder. Bald entrang sich kein anderer Laut mehr dem ziehenden Wesen als Stöhnen, Husten, Wimmern und manchmal ein wüster, krampfhafter Aufschrei. Mit der Zeit fielen immer mehr Glieder dieses Wesens ab, sanken hin, wurden in den Graben gestoßen und verreckten. Dann sausten die Knüppel der Saptiehs auf die Rücken der zögernden Scharen. Wütend waren die Saptiehs. Auch sie mußten ein Hundeleben führen, ehe sie ihre Ausgetriebenen an der Grenze der Kasah dem benachbarten Gendarmeriekommando übergaben. Anfangs wurden noch Standeslisten geführt. Als aber dann die Krankheits- und Todesfälle überhandnahmen, als man immer mehr Halb- und Ganzgestorbene in den Straßengraben werfen mußte, vor allem Kinder, da erwies sich die Listenführung als höchst lästig und der Onbaschi ließ die überflüssige Schreiberei bleiben. Ob Sarkis, Astik oder Hapeth, ob Anusch, Wartuhi oder Koren auf freiem Felde verwesten, wer fragte danach? Nicht alle Saptiehs waren reißende Bestien. Es ist sogar anzunehmen, daß die Mehrzahl aus durchschnittlich guten Menschen bestand. Doch was soll er tun, der Saptieh? Er hat den scharfen Befehl, mit der ganzen Herde zu dieser und dieser Stunde dort und dort gestellt zu sein. Sein Herz begreift die brüllende Mutter ganz gut, die ihr Kind aus dem Graben reißen will, die sich auf die Straße hinwirft und in die Erde krallt. Kein Zureden hilft. Es dauert schon Minuten und die Station ist noch zwölf Kilometer entfernt. Der Zug stockt. Alle Gesichter verzerren sich. Aus tausend Münden bricht ein Wahnsinnsgeschrei. Warum wirft sich diese Menge, so entkräftet sie auch ist, nicht auf den Saptieh und seine Kameraden, entwaffnet sie und zerreißt sie in der Luft? Vielleicht fürchten die Gendarmen einen solchen Wutausbruch, der ihr Ende wäre. Da gibt einer von ihnen einen Schuß ab. Die anderen ziehen den Säbel und schlagen mit den scharfen Klingen auf die Wehrlosen ein. Dreißig, vierzig Männer und Frauen wälzen sich in ihrem Blut. Von diesem Blut aber kommt ein andrer Rausch über die erregten Saptiehs, die alte Gier nach den Weibern der verhaßten Rasse. In den preisgegebenen Frauen vergewaltigt man mehr als menschliche Wesen, man nimmt in ihnen den Gott des Feindes in Besitz. Nachher wissen die Saptiehs kaum mehr, wie sich all das zugetragen hat.
    Ein wandernder Teppich, aus blutigen Schicksalsfäden gewoben. Es ist immer dasselbe. Nach dem ersten Marschtag werden alle Männer im kräftigen Lebensalter von den übrigen Scharen getrennt. Da ist ein sechsundvierzigjähriger Mensch in guten Kleidern; ein Ingenieur; man kann ihn von seiner Familie nur mit Kolbenstößen wegtreiben. Sein jüngstes Kindchen ist erst anderthalb Jahre alt. Er soll bei einer Straßenbaukompagnie eingeteilt werden. In dem langen Männerzug torkelt er wie ein Schwachsinniger, immer vor sich herlallend: »Ich habe doch den Bedel pünktlich bezahlt … den Bedel

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