Die Vinetaner - Rusana
seine Tante, sein Onkel und auch sein Freund Tim sich dennoch große Sorgen um ihn machen würden. Es war nicht gerade typisch für ihn, sich ohne ein Wort aus dem Staub zu machen und unentschuldigt seinem Arbeitsplatz fern zu bleiben. Aber sie würden wenigstens keine Vermisstenanzeige aufgeben. Alma hatte sogar eine Briefmarke zur Hand und versprach ihm, den Brief unterwegs in einen Postkasten zu werfen.
9. Übergang
Alwin parkte den Wagen am Hafen von Lüttenort, der schmalsten Stelle der Insel Usedom, zwischen Koserow und Zempin. Christian war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, auf die Ostsee hinauszufahren und ins Wasser zu springen. Hatte Rusana ihm die Wahrheit gesagt? War der Übergang nach Vineta wirklich zu sehen? Existierte die Stadt in einer anderen Dimension tatsächlich oder war er gerade mit zwei Verrückten unterwegs in den sicheren Tod? Er wünschte sich die erste Variante, konnte es jedoch nicht glauben und wurde immer nervöser. Obwohl Rusana ihm die Handschellen nicht wieder angelegt hatte, war ihm klar, dass er niemals würde fliehen können. Dennoch blickte er sich suchend nach einer Möglichkeit um, nachdem Rusana seine kindergesicherte Tür geöffnet hatte, und er ausgestiegen war. Zur Ostsee hin waren nur Bäume zu sehen und im Hafen des Achterwassers schaukelten einsam einige Boote. Dank des trüben und ungemütlichen Wetters sowie der fortgeschrittenen Zeit war, außer ihnen, niemand zu sehen. Die Touristen saßen längst in gemütlichen Restaurants und aßen zu Abend. Christian bemerkte, dass Alwin ihn beobachtete, mit einem Blick, den er nicht deuten konnte. Einerseits sah der Vinetaner entschlossen aus, ihn mit Gewalt mitzuschleifen und ihm notfalls auch einen Kinnhaken zu verpassen, andererseits glaubte Chris, so etwas wie Verständnis für sein Dilemma in Alwins Augen zu sehen. Plötzlich griff der Vinetaner in die Innentasche seiner Jacke und holte seine Geldbörse hervor. Er öffnete sie, zog ein Foto heraus und hielt es Christian vors Gesicht:
„Das hier sind meine Frau und meine Tochter. Ich liebe die beiden und möchte endlich wieder unbeschwert mit ihnen zusammen sein können. Ohne Angst, dass ihnen etwas zustößt, wenn ich nicht pariere. Durch dich kann diesem ganzen Wahnsinn endlich ein Ende gesetzt werden. Durch dein Blut wird Marco erwachen und Otruna kann nicht mehr behaupten, dass das niemals passieren darf. Ihr müsst ihr das Handwerk legen, denn ich befürchte, dass Otrunas wahres Vorhaben die Vinetaner ins Verderben stürzen wird. Sie ist böse und machtbesessen, auch wenn sie es gut tarnt.“
Christian hörte ihm zu und nahm das Foto. Alwins Frau war eine blonde Schönheit und seine Tochter, die ungefähr so alt war wie Tims, lächelte glücklich. Sie hatte große blaue Augen und ihre lockigen Haare wehten ihr ins Gesicht. Im Hintergrund war eine Stadt zu sehen, über die ein Schloss thronte, das an Neuschwanstein erinnerte. Jedoch war das Schloss auf dem Foto noch imposanter und die Türmchen, Dächer und Zinnen leuchteten golden in der Sonne. Christian hatte dieses Schloss und die Stadt noch niemals zuvor gesehen.
„Vineta existiert“, erklärte Alwin. „Wirst du uns helfen, Otruna und ihre Anhänger zu entlarven und zu stoppen?“
Christian schluckte. Es war ihm schon immer schwergefallen, eine direkte Bitte abzulehnen. Was, wenn Vineta nicht nur ein Mythos war? Immerhin standen vor ihm zwei außergewöhnliche Menschen, mit Fähigkeiten, die sie nicht besitzen dürften. Und das Foto, das er betrachtete, sah echt aus - so echt, wie der Schmerz in Alwins Augen. Er sorgte sich eindeutig um seine Familie und vermisste sie.
„Der Übergang in eure Welt ist wirklich zu sehen?“, fragte er heiser, denn dieser Aspekt würde ihm zumindest ein bisschen Sicherheit geben.
Alwin nickte.
„Wenn das so ist und ich überzeugt bin, dass es kein Trick ist, werde ich helfen, so gut ich kann. Wobei meine Kräfte im Vergleich zu euren ja wirklich mickrig sind.“
Alwin lächelte.
„Zum Glück kommt es nicht immer auf Stärke an. Und jetzt komm, wir sollten uns beeilen.“
Rusana, die während des Gespräches Ausschau nach potenziellen Feinden gehalten hatte, nickte Alwin zu. Sie war ihm dankbar, dass er versucht hatte, Christian die Angst zu nehmen. Allerdings würde sie alles daran setzen, dass Chris nicht in einen Kampf mit Otruna und ihren Anhängern geriet, denn er hätte keine Chance, die Konfrontation zu überleben.
Der Strand war, genauso wie der Hafen,
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