Die Vinetaner - Rusana
antwortete Christian patziger, als beabsichtigt. Nur seine Tante durfte ihn als ‚Junge’ betiteln. Zu seiner Überraschung lachte Egbert warm und klopfte ihm auf die Schulter.
„Glaub mir, ich darf Junge zu dir sagen, denn aus meiner Sicht bist du noch ein Kleinkind und Rusana, der ich oft genug die Windeln gewechselt habe, ist für mich ein Teenager. Sie ist wie eine kleine Schwester für mich.“
Rusana knuffte dem Gardisten in die Rippen und erklärte fröhlich:
„Du darfst sein Gerede nicht ernst nehmen, Chris. Egbert fühlt sich mit seinen sechshundertachtundfünfzig Jahren eben wie ein Opa. Aber ich liebe ihn wie einen Bruder.“
Christian musterte Egbert wie ein Weltwunder. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass der Mann vor ihm bereits mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel haben sollte. Dieser zog eine Augenbraue hoch und meinte:
„Gib es zu. Für mein Alter sehe ich unwiderstehlich aus, oder?“
Christians Mundwinkel zuckten. Eigentlich mochte er Egbert.
„Wenn ich eine Frau wäre, würde ich dir zu Füßen fallen. Ist Ruven genauso alt wie du?“
„Ja.“ Egbert wurde schlagartig ernst. „Und es wird Zeit, dass er aus seinem lethargischen Gefängnis gerissen wird. Er ist kaum noch ansprechbar.“
Der Gardist wandte sich an Rusana:
„Seid ihr lebensmüde, oder warum lauft ihr hier ohne Armbrust durch die Gegend?“
Rusana steckte sich eine verirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr und setzte Egbert über die letzten Ereignisse in Kenntnis. Seine Miene verdüsterte sich zusehends, und als sie endete, meinte er:
„Ich kenne Otruna mein Leben lang und was du mir erzählst, passt nicht zu ihr. Ihre Handlungen sind für mich nur dadurch zu erklären, dass sie von den Schriften der Malusianer beeinflusst wird.“
„Wäre dir das nicht aufgefallen?“
Egbert rieb sich über sein stoppeliges Kinn.
„Ehrlich gesagt habe ich nur selten mit ihr gesprochen, seit Ruven diesen unheilvollen Fluch ausgesprochen hat. Dein Bruder versinkt in seiner Depressivität und selbst ich komme kaum noch an ihn ran. Wenn ich im Schloss bin, habe ich andere Probleme, als auf Otruna zu achten. Ganz abgesehen davon weiß ich aus Erfahrung, dass die Betroffenen äußerst geschickt darin sind, ihren Wahnsinn für lange Zeit zu verbergen.“
Rusana blickte Egbert bekümmert an.
„Dann sind die Geschichten, die sich das Volk über die Malusianer erzählt, also wirklich wahr? Ruven und du, ihr habt mir nie meine Fragen beantwortet.“
„Weil du noch so jung warst und es noch immer bist. Wir wollten, dass du dein Leben genießt und dich nicht mit Fakten ängstigen, vor denen selbst wir uns fürchten. Wahrscheinlich werden wir niemals hinter das Geheimnis der Schriften kommen und können nur hoffen, dass sich eine Zerstörung, wie sie vor eintausend Jahren stattfand, nicht wiederholt.“
Rusana zog einen Schmollmund, den Christian süß fand.
„Und warum bist du plötzlich so offen und redest über die Malusianer?“
„Weil ich befürchte, dass das, was dir, Marco und Ruven vor zweiunddreißig Jahren passiert ist, mit den Schriften der Malusianer zusammenhängt. Otruna war garantiert schon damals befallen und verfolgt einen mörderischen Plan, der ihrem Wahnsinn entspringt.“
Wut spiegelte sich in Rusanas Augen, als sie über Egberts Worte nachdachte. Sollte das ganze Elend der letzten Jahre Otrunas Schuld sein?
„Otruna ist nicht mehr sie selbst, Rusana“, erklärte Egbert, der ihre Gedanken erahnte. „Wer zu lange auf diese Schriften sieht, gerät in den Bann der Malusianer. Ich nehme an, dass Otruna kaum eine Chance hatte, sich ihrem Einfluss zu entziehen.“
Rusana nickte, straffte merklich ihre Schultern und wechselte das Thema.
„Ich bin froh, dass du aufgetaucht bist. Was machst du überhaupt hier?“
„Ich war bei diesen merkwürdigen Menschen, die sich in den Kopf gesetzt haben, fernab von jeglicher Zivilisation leben zu wollen. Zwei Wölfe aus dem Norden haben ihr Dorf in Angst und Schrecken versetzt und sie sind nicht mit ihnen fertig geworden.“ Egberts verwegenes Grinsen huschte über sein Gesicht. „Sie haben um Hilfe gerufen und ich bin zu ihnen geeilt, um sie zu retten.“
Er blickte von Rusana zu Christian.
„Ehrlich gesagt bin ich schwer beeindruckt, dass ihr noch beide lebt, und wir sollten dafür sorgen, dass das so bleibt. Ich werde Ruven aufscheuchen, indem ich ihm eine Nachricht schicke. Er soll uns am Rand der Salzsteppe abholen.“
„Wie willst du das anstellen?“, fragte Christian
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