Die Vinetaner - Rusana
es nur eine sehr geringe Anzahl von Vinetanern, die in der Lage sein sollen, die Schriften zu entziffern. Vielleicht hoffen die Personen, die für die Existenz der Schriften verantwortlich sind, dass sie eines Tages einem dieser Vinetaner in die Hände fallen.“
Christian rieb seine fröstelnden Arme.
„Da kann man ja nur hoffen, dass an diesen Legenden nichts dran ist.“
„Das hoffe ich auch, aber alle, die Genaueres darüber wissen müssten, weigern sich, mir meine Fragen zu beantworten. Also wird an diesem Mythos wohl ein Körnchen Wahrheit sein.“
„Vielleicht. Was passiert eigentlich bei einem Putsch? Geht die Gabe des Fluches dann an denjenigen über, der den Thron besteigt?
„Nur, wenn der Nachfolger aus der Blutlinie der Königsfamilie hervorgegangen ist und einen Anspruch auf den Thron hat. Kein Unwürdiger würde es wagen, sich selbst zum König zu ernennen, denn kein Vinetaner würde ihn anerkennen. Sein Leben wäre verwirkt.“
Rusana trank ihren letzten Schluck Kaffee und stand auf.
„Wir sollten langsam aufbrechen. Ich gehe mal nachsehen, ob Bolzen in der Kiste liegen.“
Chris nickte und bemerkte, dass Rusana, anstatt zu gehen, sein verbundenes Handgelenk musterte. Da er ahnte, was ihr durch den Kopf ging, sprang er ebenfalls auf und eilte zielstrebig zur Badezimmertür, während er erklärte:
„Darum musst du dich nicht kümmern. Das ist auch so fast schon wieder verheilt.“
Allein der Gedanke ihrer warmen Zunge auf seiner Haut brachte sein Blut in Wallung und ließ es in unpassende Regionen wandern. Chris zog die Schmerzen im Handgelenk der Peinlichkeit vor, mit ausgebeulter Hose vor Rusana zu stehen, wenn sie an ihm herumleckte.
Rusana blickte mit großen Augen auf die Tür des Bades, hinter der Chris verschwunden war. Sie war durcheinander, denn seine Flucht konnte zweierlei bedeuten: Er fand es abstoßend, wenn sie ihn mit ihrer Zunge berührte oder er empfand etwas für sie. Rusana wusste jedoch, dass es Letzteres war. Bestätigte sein Verhalten doch ihre Vermutung nach dem Aufwachen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie sein Verlangen schon längst in seinen Augen erkannt. Sie hatte es nur ignoriert, um sich zu schützen und nicht noch tiefer in den Strudel ihrer eigenen Gefühle zu versinken. Rusanas Herz begann zu rasen. Sie wandte ihren Blick abrupt von der Badezimmertür ab und eilte nach draußen. Sie musste sich zusammenreißen und dafür sorgen, dass sie es bis nach Vineta schafften. Bolzen wären dafür sehr hilfreich.
Leider musste sie feststellen, dass ihre Befürchtung sich bewahrheitete. Die Bolzen waren verschwunden. Also mussten andere Waffen her. Rusana ging zurück in die Hütte und zerbrach die Küchenstühle. Mithilfe von Klebeband, das im Küchenschrank lag, befestigte sie Fleischmesser an den Enden der Stuhlbeine. Als Christian aus dem Bad trat und sah, was sie tat, half er ihr beim Zusammenbasteln der provisorischen Speere. Wie wirksam diese, zusammen mit der Pistole, gegen einen wütenden, verletzten Budara waren, würde sich zeigen.
Eine halbe Stunde später erklimmte Rusana nacheinander alle vier Leitern, die innerhalb ihrer Festung an den massiven Schutzzäunen angebracht waren, und hielt in allen Himmelsrichtungen Ausschau nach dem Budara oder anderen Feinden. Sie konnte keine Bedrohung sehen oder spüren, doch sicher waren sie deswegen nicht. Christian hatte den Budara an einer empfindlichen Stelle getroffen, da war sich Rusana sicher, sonst hätte das Raubtier seinen Angriff nicht kurzzeitig unterbrochen und Chris hätte den Zugang zur Festung nicht schließen können. Aber der Budara war irgendwo da draußen. Wahrscheinlich hatte er sich zum Fluss aufgemacht, der drei Fußstunden entfernt war, um dort seinen Hunger mit Fischen zu stillen. Der Budara schaffte es selten, Wild zu erlegen, da die Tiere zu schnell für ihn waren, deswegen waren Fisch und Aas seine Hauptnahrungsquelle. Seine Lieblingsspeise bestand jedoch aus Menschen- oder Vinetanerfleisch. Aus diesem Grund würde er auch zurückkommen und ihre Spur verfolgen. Rusana hatte in Erwägung gezogen, in der Hütte zu bleiben und auf Hilfe zu hoffen, doch da nur ihre Feinde von ihrer Anwesenheit wussten, würde das sinnlos sein, vielleicht sogar gefährlich. Mithilfe von Seilen würden Vinetaner sowie Menschen es durchaus schaffen, den Schutzzaun zu erklimmen und sie anzugreifen. Selbst wenn ihre Gegner nicht in die Hütte gelangen konnten, könnten sie sie durch die vergitterten Fenster
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