Die Violine des Teufels
Jahresringe des Holzes nicht mit der Zeit übereinstimmen, in der Stradivari lebte, kann die Geige nicht echt sein. Aber mit dieser Analyse kann man nur unechte Instrumente ausschließen, nicht jedoch die Echtheit bestätigen. Wenn das Holz aus dem Jahre 1710 stammt, bedeutet das ja noch nicht, dass die Geige auch von Stradivari ist.«
»Aber wieso sind Sie dann so sicher, dass es eine Stradivari ist?«
»Weil da außerdem noch das ist, was Geigenbauer die ›Handschrift des Meisters‹ nennen. An den F-Löchern im Korpus oder an der Schnecke finden sich Hohlbeitelspuren, die die unverwechselbare Handschrift Antonio Stradivaris tragen. Ein Kunsthandwerker dieses Kalibers führt den Stech- oder Hohlbeitel ebenso kunstvoll wie Leonardo da Vinci den Pinsel auf der Leinwand.«
Garralde hielt inne, zog ein Silberdöschen aus der Hosentasche, entnahm diesem eine kleine Pille und schluckte sie ohne Hilfe von Flüssigkeit herunter. Dabei fiel Perdomo auf, dass sie wie Männer einen sehr ausgeprägten Adamsapfel hatte, und beobachtete abgestoßen, wie dieser sich beim Schlucken nach oben bewegte.
»Diese Analysen sind immer hilfreich«, fuhr sie fort, »aber einer Musikerin von Anes Kaliber muss niemand sagen, dass ihre Violine außergewöhnlich ist.«
»Wollen Sie damit sagen, man kann auch ohne einen Fachmann herausfinden, ob eine Geige eine Stradivari ist? Wie das?«
»Ach, Inspector!«, rief Garralde, als empfände sie angesichts solch tiefer Unwissenheit auf diesem Gebiet nicht Verachtung, sondern schlicht Mitleid. »Dafür muss man Musiker sein und bereits eine Stradivari gespielt haben. Für einen Virtuosen ist eine Strad ein echtes musikalisches Juwel. Sie reagiert wie ein Vollblüter auf den kleinsten Druck mit dem Bogen, allerdings hat sie den Vorteil, dass man immer weiß, das Tier ist zahm und wird einen niemals abwerfen wie ein wildgewordenes Pferd. Ane hat immer gesagt, sie hätte den Klang ihrer Strad niemals forcieren müssen, gleichgültig wie groß der Konzertsaal war, und dass sie immer eine unerschöpfliche Klangreserve hatte, falls sie sie einmal brauchte. Ich weiß nicht, ob die Metapher mit dem Vollblüter wirklich passend ist, oder ob ein rassiger Sportwagen, der in Sekundenbruchteilen auf den kleinsten Druck mit dem Fuß reagiert, angemessener wäre.«
»Also ist die charakteristischste Eigenschaft des Instrumentes seine Reaktionszeit? Sozusagen die Beschleunigung von null auf hundert, um in Ihrem Automobilbild zu bleiben?«
»So einfach ist das nicht. Der Klang einer Stradivari ist unnachahmlich. Ane glaubte nicht, dass man ihn fälschen kann, deshalb sorgte sie sich auch nicht darum, was die Fachleute sagen könnten. Ihre Violine hat einen sehr vollen erlesenen Klang, sowohl im hohen als auch im tiefen Bereich, und außerdem ist sie unglaublich vielseitig, denn sie bringt sowohl tiefe, dunkle und samtige Töne wie ein Cello hervor als auch ganz hohe Töne, die wie die einer Trompete klingen. Und immer hatte sie einen kraftvollen Klang, denn eine der erstaunlichsten Eigenschaften einer guten Strad besteht darin, dass die Töne sich im Konzertsaal zu entfalten scheinen, als blühten sie in der Luft auf, von der kleinen Knospe, als die sie das Instrument verlassen, zu der spektakulären Rose, in die sie sich verwandeln, wenn sie das Ohr des Zuhörers erreichen.«
»Verstehe«, sagte Perdomo, ganz benommen von dieser Blumenmetapher.
»Die einzige Unbekannte bei Anes Violine besteht nicht in der Frage, ob es eine Stradivari ist oder nicht, sondern welche Stradivari es ist. Ane wollte gerne glauben, dass ihre Geige eine von Paganinis Stradivaris war. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass dieser italienische Geigenvirtuose am Ende seines Lebens eine wahrhaft bemerkenswerte Instrumentensammlung zusammengetragen hatte.«
Perdomo war kurz damit beschäftigt, die neugewonnenen Informationen zu notieren. Als er damit fertig war, fragte er: »Wissen Sie, ob jemand Ihrer Klientin irgendwann einmal ein Angebot für ihre Geige gemacht hat, auch wenn sie es abgelehnt hat?«
»Das hätte niemand gewagt, Inspector. Einem Sammler oder Geigenbauer ein Instrument abzukaufen, ist das eine, aber einem Musiker ein solches Angebot zu machen, ist etwas völlig anderes, vor allem einem von Anes Kaliber. Das wäre, als hätte ihr jemand Geld für ihre Kehle oder ihre Stimmbänder geboten, denn Anes Stradivari war ihre Stimme. Dass es sicher Leute gibt, die sie insgeheim begehren, steht auf einem anderen
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