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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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sagte der Pfarrer.
    »Sie haben recht, Hochwürden«, sagte der Assessore, »das klingt schon etwas anklagend.«
    »Untröstlicher Schmerz! Sie können sicher sein, daß die Kirche jedem Gläubigen beisteht, doch man muß auch bereit sein, Trost anzunehmen.«
    »Natürlich.«
    »Und vor allem fehlt jeder Hinweis auf die Beerdigung. Die Hinterbliebenen haben sich diesbezüglich auch gar nicht an mich gewandt.«
    »Dann wollen wir mal!« sagte der Assessore.
    Der Pfarrer ging die wenigen Schritte zum Haus der Lucarellis voraus und klopfte. Antonietta öffnete und bat die beiden herein. Um den Tisch saßen Assunta, die Mädchen und Paolo Garzone. Das Frühstücksgeschirr war schon abgeräumt. Durch die offene Tür des Nebenzimmers fiel schwaches Kerzenlicht. Die beiden Särge waren nur zu erahnen.
    »Im Auftrag der Gemeinde Pergola möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid zu dem doppelten Schicksalsschlag aussprechen, den Sie und Ihre Familie hinzunehmen hatten«, sagte der Assessore.
    »Danke«, sagte Antonietta.
    »Die Gemeinde ist natürlich bereit, Ihnen bei der Organisation und Durchführung der Beerdigung jede erdenkliche Hilfe zuteil werden zu lassen. Und Hochwürden steht ebenfalls zu Ihrer Verfügung.«
    Der Pfarrer nickte.
    »Danke«, sagte Antonietta, »aber das wird nicht nötig sein.«
    »Ganz Montesecco hilft mit«, sagte Paolo Garzone.
    »Um so besser«, sagte der Assessore. »Nun gibt es leider auch Vorschriften, deren Einhaltung ich zu überwachen habe. Sie können mir glauben, daß es mir äußerst unangenehm ist, Sie darauf hinweisen zu müssen, doch Tote müssen nun mal schnellstmöglich bestattet werden.«
    Antonietta sagte nichts. Die Mädchen saßen stumm auf ihren Stühlen. Paolo Garzone stützte die Ellenbogen schwer auf den Tisch. Assunta stand auf, schloß die Tür zum Nebenraum und schlurfte zur Spüle.
    »Die sterblichen Hüllen mögen in geweihter Erde zur letzten Ruhe kommen, damit die Seelen zu Gott heimkehren können«, sagte der Pfarrer.
    »Sie dürfen nicht zwei Leichen unbegrenzt in einem Privathaushalt aufbewahren«, sagte der Assessore. »Das ist keine Schikane. Sinn dieser Vorschrift ist, eine Gefährdung anderer auszuschließen. Schon aus seuchenhygienischen Gründen muß ich darauf ...«
    Eine Kaffeetasse zersprang klirrend auf den Steinfliesen. Meterweit stoben die Scherben von den schwarzen Halbschuhen weg, in denen Assuntas nackte Füße steckten.
    »Aus seuchenhygienischen Gründen«, sagte Assunta mit kaum hörbarer Stimme. »Die zwei Leichen, das waren mein Mann und mein einziger Sohn. Siebenundvierzig Jahre lang habe ich mit Carlo unter einem Dach gelebt, in guten wie in schlechten Zeiten. Und Giorgio habe ich unter Schmerzen in diese Welt gesetzt, aus der er jetzt vormir gegangen ist. Mein Mann und mein einziger Sohn, verstehen Sie?«
    Mit ihren faltigen Fingern strich Assunta sanft an der Rundung eines Tellers entlang. Wie in Gedanken schob sie ihn langsam über den Rand der Ablage. Sie schien gar nicht zu bemerken, wie er zu ihren Füßen zersprang. Als der Assessore einen Schritt auf sie zu machte, sprach sie weiter. Immer noch leise und beherrscht, doch voller Verachtung: »Bleiben Sie mir vom Leib, Sie und Ihre seuchenhygienischen Gründe! Als ginge es um Ungeziefer, als stapelten sich im Haus Dutzende von Rattenkadavern, die man beseitigen muß. Die Nase zuhalten, die stinkenden Fleischhaufen auf eine Kehrichtschaufel, und ab in den Müll, was?«
    »Beruhigen Sie sich, Signora!« sagte der Pfarrer.
    »Aus seuchenhygienischen Gründen! Wo haben Sie denn Ihren Mundschutz gelassen? Hier stinkt es nach Tod und Verwesung, riechen Sie das nicht? Wie halten Sie das nur aus? Mir wird auch übel, aber wegen Ihnen! Sie, Sie stinken viel schlimmer als jeder Rattenkadaver. Und jetzt raus hier, alle beide!«
    »Signora, Sie müssen verstehen ...«, sagte der Assessore.
    »Raus!« brüllte Assunta Lucarelli, und erst jetzt brachen die Dämme, kochten Wut und Abscheu in ihr über, fuhren ihre Hände durchs weiße Haar, krallten sich ihre Fingernägel in die eigenen bleichen Wangen. Und was da mit wirrem Haar und verzerrtem Gesicht kreischte und heulte, war keine trauernde Witwe und Mutter, sondern eine Furie aus längst vergangenen heidnischen Zeiten, die auferstanden war, um zu zeigen, daß sich Vernunft und modernen Gesetzesvorschriften zum Trotz nichts geändert hatte. Daß Jahrhunderte kultureller Zähmung nur eine hauchdünne Tünche an Selbstkontrolle aufgetragen hatten,

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