Die Vipern von Montesecco
warf es in den Papierkorb.
Die Windböen waren abgeflaut, die Hitze drückte aus einem schmutzigweißen Himmel, und erst jetzt wurdeman sich des feinen roten Staubs bewußt, der Tische, Bänke und den Asphalt überzuckert hatte. Eine dünne Schicht Wüste, die über allem lag, sich in den Haaren festsetzte und in jede Pore einzudringen schien. Vielleicht war es dieser Staub aus einer fernen Welt, der die Dorfbewohner daran erinnerte, daß zwei unbestattete Tote im Haus Lucarelli lagen, die nicht dort bleiben konnten, weil die Gesetze es verboten.
Vielleicht akzeptierte man auch nur, daß die Eisvorräte der Bar beim besten Willen nicht völlig zu verzehren waren. Auf jeden Fall wurde die Völlerei abgebrochen. Das Signal dazu gab Ivan Garzone, als er die restlichen Eiskartons an die Frauen des Dorfs verteilte. Sobald die Beute in Gefriertruhen und Kühlschränken verstaut war, sammelten sich alle unten auf der Piazza.
Zuerst trugen die Männer Carlos Sarg aus dem Haus und befestigten ihn auf dem Gestell, auf dem das Gnadenbild der Madonna an Ferragosto durchs Dorf getragen wurde. Paolo und Ivan Garzone packten an den vorderen Holmen zu, Angelo Sgreccia und Franco Marcantoni hinten. Auf Francos Kommando hoben sie an und schulterten den Sarg. Gefolgt von den anderen, trugen sie ihn die Gasse hinauf, durch die Carlo Lucarelli ihnen vorangegangen war, als er von der Autopsie Giorgios zurückgekehrt war.
Kein Laut war zu hören, nur die Glocke von Santa Maria Assunta schlug in regelmäßigen Abständen. Doch auch wenn Lidia Marcantoni oben im Kirchturm läutete, es war kein Begräbniszug, der unter ihr auf den Balcone einbog. Niemand klagte, niemand weinte, auch Assunta ging gefaßt mit. Es war kein Abschied, keine Entscheidung, sie handelten weder fromm noch pietätlos. Was sie taten, war so selbstverständlich, wie die Hühner zu füttern oder die Ernte einzufahren. Giorgio und Carlo hätten es genauso gesehen.
Die Sargträger ließen die Kirche links liegen, schrittenan der verschlossenen Tür der Sebastianskapelle vorbei und betraten den vorderen Raum der Bar. Die Stühle und Tische waren noch draußen auf der Piazzetta. Nur der Kicker stand einsam in der Mitte des kahlen Raums. Die Sturmreihe der roten Mannschaft streckte die Beine in die Luft. Vorsichtig senkten die vier Männer das Traggestell ab und hoben den Sarg herunter. Erst als sie auch Giorgios Leiche geholt hatten, öffneten die Frauen die Sargdeckel.
Die Eistruhe stand im hinteren Raum, schräg gegenüber der Theke. Es war eine große, in Blau und Weiß gehaltene Truhe, auf der über einem angedeuteten tropischen Strand das Logo der Firma zu lesen war: GIS. Creagelati. Die Deckfläche bestand aus zwei sanft gerundeten Plexiglasscheiben, die man zum Öffnen gegeneinander verschieben konnte. Die Truhe brummte leise.
»Nicht übereinander, wenn es irgendwie geht«, sagte Assunta. Sie schob den rechten Flügel der Deckfläche ganz zurück. Die Truhe war leer. Ihre Innenwände waren mit einer dünnen Schicht Eiskristalle überzogen. Angenehme Kälte dampfte heraus.
»Also los!« sagte Angelo Sgreccia. Paolo Garzone packte mit an. Carlo war immer ein schmächtiger Mann gewesen, und auch bei Giorgio gab es kaum Probleme. Seine Knie mußten ein wenig angewinkelt werden, doch die Truhe war breit genug, um sie beide nebeneinander auf den Rücken zu legen.
Assunta strich sanft mit der Hand über die wächsernen Wangen der beiden Toten. Dann schloß sie die Eistruhe. Durch das Plexiglas schienen die bleichen Gesichter fast schmerzhaft verzerrt und noch fremder als vorher, doch als die Innenseite des Glases beschlug, verschwammen sie in weichem grauen Nebel.
»Ich bringe noch eine Vase mit Blumen«, sagte Milena Angiolini.
»Nein!« sagte Assunta. Es war nicht an der Zeit, die Toten zu betrauern. Noch mußten sie ausharren in demunheimlichen Schattenreich zwischen dem irdischen und dem ewigen Leben. Es ging nicht anders.
»Schlaft gut!« sagte Assunta, und jeder begriff, daß ihr Mann und ihr Sohn für sie erst wirklich tot wären, wenn man sie mit Anstand und Würde begraben hatte. Noch waren sie da, in ihrer aller Mitte, und noch ein letztes Mal würden sie aufstehen, um sich dann endgültig zur ewigen Ruhe zu betten. Dann sollten ihre Särge in Sträußen und Kränzen versinken, nicht jetzt. Man stellte keine Blumen für jemanden auf, der vor dem letzten, anstrengendsten Stück Weg, das er zu bewältigen hatte, kurz rastete. Ja, Carlo und Giorgio
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