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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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schliefen nur, einen langen, tiefen Schlaf, in dem sie von niemandem gestört werden sollten. Dafür hatte Assunta zu sorgen. Dafür hatten alle zu sorgen.
    Und deshalb handelte Ivan ganz in ihrem Sinn, als er die Unterseite einer leeren Eistortenschachtel abriß, mit schwarzem Filzstift defekt daraufschrieb und den Karton zwischen die Plastikgriffe der Eistruhe klemmte.
    Die Tür von Lucarellis Haus stand offen. Aus dem Innern tönten die ersten Takte von » L’isola che non c’è «. Der Plattenspieler war so laut gestellt, daß die Bässe brummten und der Gesang in den Spitzen schepperte. Sonia Lucarelli störte sich nicht daran. Sie sollte tun, was ihr Spaß mache, hatte ihre Mama gesagt. Das hätte Papa auch so gewollt. Sonia machte es Spaß, Musik zu hören. Sie stand im Schatten des Hauses, wiegte sich in den Hüften und summte die Melodie mit.
    »Hör auf!« sagte ihre Schwester Sabrina aus dem Liegestuhl vor der Anzeigetafel. Sie hatte die Beine angezogen und bepinselte ihre Zehennägel mit dem violetten Nagellack, den Milena Angiolini ihnen beiden geschenkt hatte.
    »Warum?« fragte Sonia.
    »Darum.«
    Unter dem Liegestuhl hatte sich Gigolo zusammengerollt.Seine Schnauze lag auf den Vorderpfoten, und die wäßrigen Augen starrten ins Leere. Nur wenn eine Fliege zu aufdringlich wurde, klappte er die Lider zu.
    Sonia machte ein paar Tanzschritte, stemmte die Fäuste in die Hüften und ließ das Becken kreisen. Sie sang: »... porta all’isola ...«
    »Das ist ja gräßlich«, sagte Sabrina.
    »... che non c’è.« Sonia drehte sich um die eigene Achse und warf die Arme nach oben.
    »Du singst wie eine quietschende Kellertür.« Sabrina kicherte blöd. Sie streckte den rechten Fuß in die Luft und bewegte die Zehen auf und ab. Es war reines Theater, denn bei der Hitze trocknete der Lack schneller, als man ihn auf die Nägel bekam.
    »Ich schreibe dir eine Karte aus San Remo, wenn ich das Festival gewonnen habe«, sagte Sonia. Alle berühmten Sängerinnen hatten mal klein angefangen. Milva und Mina und Laura Pausini, und wie sie alle hießen. Sabrina würde schon sehen.
    Sabrina ließ ihre Fußsohlen langsam aufs Pflaster hinab und stand auf. Die Zehen reckte sie immer noch affig nach oben.
    »... forse è proprio l’isola che non c’è ...«, sang die Stimme von Edoardo Bennato aus dem dunklen Hauseingang. Sonia trällerte mit. Sie legte den Kopf schief und übte ihren Augenaufschlag. Singen allein war nicht alles. Wie man aussah und wie man sich benahm, zählte mindestens genausoviel. Daß man zum Beispiel in jeder Situation nett lächeln konnte.
    Sabrina beugte sich nach unten, um ihre violetten Nägel zu betrachten. Dann rückte sie den Liegestuhl zur Seite und stupste mit den Zehen in Gigolos braunes Fell. Der Hund tat so, als hätte er nichts bemerkt.
    »Los, auf!« Sabrina stieß mit dem Fuß hart in Gigolos Flanke. Mit einem Kläffen sprang der kleine Hund auf. Der verstümmelte Schwanz zuckte.
    »Komm, Gigolo!« sagte Sabrina.
    »Wohin gehst du?« fragte Sonia.
    »Fort!«
    »Wie fort?«
    »Für immer fort!«
    Sonia sah zu, wie ihre Schwester in die Sandalen schlüpfte. Sabrina war fast zwei Jahre älter als sie, aber deswegen durfte sie noch lange nicht abhauen. Kinder blieben bei ihrer Familie. Nur Erwachsene gingen für immer fort.
    Das Lied verklang. Die Stille tat weh. In sie hinein zischte Sonia: »Wenn du fortgehst, verrate ich dich.«
    »Mir doch egal«, sagte Sabrina und ging ins Haus.
    Sonia winkte Marisa Curzio zu, die drüben aus der Tür trat und sich Richtung Kirche wandte. Als sie hinter dem Haus des Americano verschwunden war, war die Piazza wieder menschenleer. Eine einsame Taube trippelte auf die Autos zu, die schräg vor dem Mäuerchen an der Hangseite parkten. Rechts stand ein verlassener Liegestuhl. Er war mit gelb-weißem Stoff bespannt. Er sah aus, als würde er auf die Nacht warten.
    Sabrina kam mit einer Umhängetasche und einem Strick in der Hand zurück.
    Sonia mochte die Nacht nicht. Sie mochte auch den Liegestuhl nicht. Fast unhörbar summte sie den Refrain von » L’isola che non c’è « vor sich hin.
    »Ich komme mit«, sagte sie dann leise.
    »Ich gehe nicht nach San Remo.« Sabrina packte Gigolos Halsband und schlang den Strick durch. Sie verknotete ihn.
    »Trotzdem«, sagte Sonia. Sie dachte an die Insel, die es nicht gab.
    »Nein«, sagte Sabrina. Sie wickelte das freie Ende des Stricks ein paarmal um ihr Handgelenk und zog an. Gigolo stemmte sich in den

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